Hagen. Der Hass ist jeden Tag spürbar. Die Migration bringt neuen Antisemitismus nach Hagen. Die Juden in Hagen haben aber eine Hoffnung.

Es ist still. So still. Das Tageslicht fällt durch die Deckenkuppel und flutet den Gebetsraum, den Tora-Schrein, die Sitzreihen, die kunstvollen Fenster. Das ewige Licht flackert in warmem Orange in einem Kerzenhalter. Auf dem Lesepult liegt ein Tuch. Darauf gestickt der Davidstern, das Symbol des Judentums. Darunter auf Hebräisch der Name des 1939 in die USA geflohenen Ferdinand David, der als Jurist und Kommunalpolitiker, aber vor allem als Jude in Hagen in den 20er- und 30er-Jahren wertvolle Spuren hinterlassen hat. Mittendrin ein Mann, von dem niemand weiß, dass er eigentlich ein IT-Spezialist war - auch fürs Militär. Aufgewachsen in einem Kibbuz bei Tel-a-Aviv, im Alter von 23 Jahren nach Hagen ausgewandert: Hagay Feldheim, Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Hagen.

„Die Gesellschaft radikalisiert sich“

Heute ist Gedenktag an die furchtbaren November-Pogrome. Und keine Sorge, dieser Text wird die werten Lesenden nicht mit den Geschehnissen von damals überhäufen und spart sämtliche Nie-wieder-Rhetorik aus. Berichterstattung dazu gibt es bundesweit zuhauf. Es geht - und darüber will Hagay Feldheim gerne sprechen - um die Angst der Juden, um den wieder aufkeimenden Antisemitismus, das „Verkrampfen des geistigen Muskels“, wie Feldheim später im Gespräch sagen wird. „Die Gesellschaft radikalisiert sich wieder mehr, auch ihre Mitte und wir spüren den Antisemitismus auf unterschiedlichen Ebenen“, sagt er.

M. Kleinrensing WP Hagen Synagoge
Zuletzt feierte die jüdische Gemeinde „Sukkot“. Das Fest wird im Herbst, fünf Tage nach dem Versöhnungstag, im September oder Oktober gefeiert. Es ist auch als „Laubhüttenfest bekannt.“ © WP | Michael Kleinrensing

In das Herzstück der Synagoge zu gelangen, war mit mehreren Hürden verbunden. Feldheim hatte unseren Besuch bei der Polizei angekündigt. Die freundlichen Polizisten in ihrem dauerhaften Dienstcontainer vor der Tür nickten wissend. Der NRW-Innenminister hat zusätzliche Kollegen nach Hagen geschickt, damit hier Schichtdienst möglich ist. Sie schützen das Haus vor etwas, von dem niemand weiß, ob es kommt. Anschläge, Attentate, Randale. „Der Eindruck, der dadurch entsteht, ist, dass hier Unsicherheit herrscht“, macht Hagay Feldheim das Paradoxon deutlich. Wer möchte seinen Glauben in einem Haus leben, das dafür sichtbaren Polizeischutz benötigt? Der Anschein von Gefahr entsteht eben auch durch die dauerhafte Polizeipräsenz.

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Mitglieder-Zuwachs aus Ex-Sowjetunion

Als Hagay Feldheim an den Posten als Gemeindevorsteher kam, war es 1991 und intern gab es Streit mit dem damaligen Vorbeter. „Als der ging, kam ich an die Stelle“, sagt der 56-Jährige. „Damals hatten wir 39 Mitglieder. Aber dann kamen viele jüdische Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion zu uns und die Gemeinde wuchs stark an. Heute hat sie 250 Mitglieder“, sagt Feldheim. Ihr Wirkungsbereich geht bis nach Siegen. Arbeit fällt für Feldheim so viel an, dass sein Posten ein Hauptamt geworden ist. Die Gemeinde sei überaus lebendig, wie Feldheim beschriebt. Es gebe zahlreiche Gruppen und Kreise, die regelmäßig arbeiten und koordiniert werden müssen.

Blick in den großen Gebetssaal der Hagener Synagoge.
Blick in den großen Gebetssaal der Hagener Synagoge. © WP | Michael Kleinrensing

Aber: So etwas wie Frieden und Ruhe mit Blick auf den dauern währenden Antisemitismus habe die Gemeinde in den vergangenen 30 Jahren nie verspürt. „Wir lebten zuletzt nicht jahrelang in Frieden. Wir lebten in Wohlstand. Für mich ist das ein bedeutender Unterschied.“ Mit den großen Problemlagen dieser Zeit - Krieg, die stockende Wirtschaft, zuletzt Corona, auch die starke Zuwanderung - sei vieles aus dem Gleichgewicht geraten. Das habe auch Einfluss auf Antisemitismus gehabt, der - wie diese Serie zuletzt gezeigt hat - oft keiner Logik folge. „Wir Juden sind für viele weiter oft die Pioniere des Chaos-Verursachens.“

Es gibt zu viele Institutionen

Ein großes Problem, das Feldheim mit Blick auf die vielen Gedenkveranstaltungen, das Mahnen und die Rückschau sieht, sei: „Es gibt zu viele Institutionen und zu wenig echte Begegnung. Wir haben dadurch einen Mangel an Empathie.“ Es gebe eben einen Unterschied, an offiziellen Gedenktagen einfach sein Wappen oder Logo zu präsentieren oder wirkliche und dauerhafte Vernetzung zwischen Juden und Nicht-Juden zu schaffen.

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Man müsse an die „Peering-Groups“. So nennt die Wissenschaft soziale Gruppen gleichaltriger oder gleichgesinnter Gruppen. „Dort entsteht der Hass, dort entstehen falsche Bilder, die innerhalb der Gruppe sehr leicht auf andere übertragen werden“, sagt Feldheim. Soziale Medien hätten eine Beschleuniger-Wirkung darauf. „Am Ende äußert sich Antisemitismus dann auch dort oder in Cybermobbing, wogegen es Zivilcourage brauche. Dieses Thema muss sensibilisiert werden“, sagt Feldheim, der in der Retrospektive auf den Holocaust auch den Schmerz der deutschen Bevölkerung erwähnt. „Da ist auch ein Trauma. Viele haben unfreiwillig mitgemacht. Manche waren ersten 16 oder 17 Jahre alt. Das verdient Beachtung.“

Die Kippa: das Symbol des jüdischen Glaubens.
Die Kippa: das Symbol des jüdischen Glaubens. © dpa | Robert Michael

Migration ein zusätzliches Problem

Für die ortsansässigen Juden haben Migration und Zuwanderung übrigens noch einen weiteren Effekt, der über die bekannten Schwierigkeiten für die Sozialsysteme hinaus geht. „Migration aus Ländern, in denen es Antisemitismus gibt, ist schwierig für uns. Das ist ein wichtiger Bestandteil der Probleme von jüdischen Gemeinden.“ „Im islamischen Antisemitismus werden die negativsten Judenbilder aus Christentum und Islam vereint. Hier werden die muslimischen Überlieferungen von jüdischer Schwäche und Feigheit mit der paranoiden Vorstellung vom Juden als dem heimlichen Herrscher der Welt verbunden“, heißt es beispielsweise bei der Bundeszentrale für politische Bildung.

Für Hagay Feldheim ist es regelmäßig ein überraschender, aber auch erfreulicher Moment, wenn unter Besuchergruppen in der Synagoge muslimische Bürger sind. „Ich habe auch schon gehört, wie sich jemand bei mir für die nette Führung bedankt hat und dann gesagt hat: ,Aber Feldheim, im Ernst, Sie sind doch kein Jude.‘ Ich passe dann einfach nicht ins Weltbild.“

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„Connect before you correct“

Er selbst befolge ein für sich einfaches Credo: „Connect before you correct“. Schaffe zunächst eine Verbindung, bevor du andere korrigierst oder disziplinierst. „Das ist, was wir lernen müssen und was auch gegen Antisemitismus hilft. Wir müssen zuerst zusammenfinden, bevor wir an weiteren Dingen arbeiten. Wir brauchen echte Begegnung.“ Die steht Interessierten zum Beispiel über Synagogen-Führungen zur Verfügung unter 02331/13289.