Hagen. Die Juden in Hagen haben nicht erst seit dem versuchten Anschlag auf die Synagoge Angst. Ihre Situation spiegelt dieses Interview.
Der Hass auf Juden, der Antisemitismus hat Mitte September mit einem vereitelten Terroranschlag auf die Synagoge in der Potthofstraße ein kaum vorstellbares Ausmaß angenommen. Welche Erfahrungen Juden im Alltag machen, was Hoffnung macht, wie Jugendliche auf die Ereignisse blicken und wie man gegensteuern kann – ein Gespräch zum Jahrestag, an dem das Vernichtungslager in Auschwitz befreit wurde.
Mit Hagay Feldheim, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Hagen, mit Gandhi Chahine, Leiter des Music Office Hagen, und mit Medine Ilhan (16) und Nico Herrmann, zwei Jugendlichen, die sich im Rahmen der Woche „Aus dem Dunkeln ein Licht“ anlässlich der Reichspogromnacht deutlich positioniert haben.
„Antisemitismus begegnet uns an vielen Stellen“
Das Projekt „Aus dem Dunkeln ein Licht“ hat den Antisemitismus eine Woche lang in den Fokus gerückt. Welche Rolle spielt der denn im Alltag?
Hagay Feldheim: Er begegnet uns noch an vielen Stellen, immer wieder. Obwohl ein großer Aufwand betrieben wird, obwohl die Zahl der Beratungsstellen in den letzten Jahren gestiegen ist – die Effekte treten nicht ein. Vor diesem Hintergrund wird es nicht einfacher, die Gemeindemitglieder davon zu überzeugen, dass wir uns öffnen müssen. Es wird immer häufiger die Frage aufgeworfen, was uns die Begegnungen bringen. Es wird darüber diskutiert, ob wir – wie nach der Machtübernahme der Nazis – nicht Warnsignale überhören und uns etwas vorgaukeln.
Und trotzdem haben Sie sich am Projekt „Aus dem Dunkeln ein Licht“ aktiv beteiligt...
Hagay Feldheim: Es bleibt wichtig, ein Bewusstsein zu schaffen. Auch für das, was Juden unterschwellig widerfährt. Es war beeindruckend, dass sich hier junge Menschen aus Überzeugung eingebracht haben. Nicht, weil sie dafür gute Noten kriegen. Sondern weil sie eine Haltung haben. Sie müssen stark sein. Weil sie eben auch in Teilen mit einer Umgebung zu tun haben, die – wenn man es möglichst neutral formulieren will – sehr kritisch auf jüdisches Leben blicken.
Gandhi Chahine: Je nachdem aus welchem gesellschaftlichen Kontext man kommt, erfordert das sogar außergewöhnlich viel Kraft. Antisemitismus – das wissen wir – macht sich in vielen Bereichen breit, in denen Jugendliche unterwegs sind. Das geht auf Schulhöfen los, setzt sich in Elternhäusern fort und endet bei kruden Verschwörungstheorien, die die Runde machen.
„Wir haben nicht einmal Geschichtsunterricht“
Stichwort Schule: Kommen da Themen wie die Befreiung von Auschwitz oder die Reichspogromnacht überhaupt vor?
Medine Ilhan: Ganz ehrlich – ich besuche die 9. Klasse. Und im Moment haben wir nicht einmal Geschichtsunterricht. Bislang sind mir diese Themen in der Schule noch nicht begegnet. Es gab zwar eine Woche gegen Rassismus – aber ich denke, dass die Hälfte meiner Klasse nicht weiß, was Antisemitismus ist.
Nico Herrmann: Wir haben den Zweiten Weltkrieg im Unterricht abgehandelt. Aber die Judenverfolgung ist da nur ein Randaspekt.
Hagay Feldheim: Umso wichtiger sind solche Projekte. Sie machen mir Hoffnung. Wir haben sehr lange gemeinsam die Tage im November geplant. Wir waren permanent im Dialog. Die Kooperation war geprägt von großem Respekt. Und herausgekommen ist eine sehr vielfältige Veranstaltung.
„Ich hätte mir gewünscht, dass noch mehr mitmachen“
Ihr habt ja teilgenommen am Projekt „Aus dem Dunkeln ein Licht“ – wie war denn die Woche für euch?
Nico Herrmann: Ich war an jedem Tag dabei. Ich habe extrem viel gelernt, bin sensibilisiert worden. Ich bemerke im Alltag noch deutlicher, wenn sich Rassismus oder Antisemitismus breit machen. Es hat mich schon stolz gemacht, dass sich Menschen aller Altersklassen gemeinsam gegen Judenhass ausgesprochen haben. Und trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass noch mehr mitmachen.
Medine Ilhan: Es ist gut gewesen, dass wir bei der Podiumsdiskussion mitreden konnten. Man hat das Gefühl dazuzugehören, ein Teil des Projektes zu sein. Das ist mir wichtig. Letztlich ist es schade, dass nicht noch mehr Jugendliche aus anderen Bereichen mitgemacht haben.
„Manchmal muss der Berg zum Propheten“
Warum ist das denn so?
Medine Ilhan: Schwierig zu sagen. Ich habe viele Jugendliche angesprochen. Letztlich habe ich aber auch oft gehört, wenn ich da allein hingehe – was soll das denn bringen? Aber wenn jeder so denkt, kommen wir nicht weiter.
Gandhi Chahine: Manchmal muss der Berg eben zum Propheten… Die Konsequenz aus dem, was Nico und Medine gesagt haben, ist, dass wir in diesem Jahr noch mehr auf die Schulen zugehen wollen.
„Wir haben gut mit der Jüdischen Gemeinde kommuniziert“
Was bedeutet euch der direkte Austausch mit der Jüdischen Gemeinde?
Nico Herrmann: Den gibt es ja nicht erst seit dem Projekt, sondern schon viel länger. Wir haben sehr gut miteinander kommuniziert, hatten viele gute Gespräche.
Gandhi Chahine: Letztlich gehört ja auch das Lutz dazu. Das Jugendtheater hat sich eingebracht, sich klar positioniert. Wenn sich nun weitere Partner einbringen wollen – gern. Aber wir haben die Erfahrung, wir geben den Rahmen vor. Das ist unser Anspruch. Die Begegnung mit Juden ist ein extrem wichtiger Teil. Uns allen begegnen Juden im Alltag. Aber die meisten haben Angst, sich zu erkennen zu geben.
„Wir verlieren nicht den Mut, etwas zu gestalten“
Wie wirkt der vereitelte Anschlag nach?
Hagay Feldheim: Nur ein Beispiel – er ist eben doch verbunden mit Maßnahmen, die wir als Gemeinde als drakonische Einschnitte empfinden. Das hat mit dem Thema Sicherheit zu tun. Das ist ein wichtiger und notwendiger Aspekt. Aber traurig ist doch, dass es so weit gekommen ist. Wir fühlen uns wie in einem Käfig. Und trotzdem wollen wir nicht, dass das Thema alles andere überschattet. Deshalb investieren wir auch weiter so viel Energie in den Austausch, verlieren nicht den Mut, etwas zu gestalten, uns zu öffnen.
Nico Herrmann: Es gab bei der Gedenkveranstaltung zum 9. November folgende Situation: Wir Jugendlichen standen dort mit Kerzen in der Hand. Und einer der Redner, ein Vertreter einer Kirche, erklärte, dass genau das nicht ausreiche. Das hat mich wütend gemacht. Denn wir waren es ja, die nicht nur Kerzen gehalten haben, sondern eine ganze Woche lang uns mit dem Thema Antisemitismus auseinandergesetzt haben, gekämpft haben gegen Judenhass.
Gandhi Chahine: Letztlich befindet sich die Jüdische Gemeinde in einer sehr schwierigen Situation. Antisemitismus erfahren die Mitglieder gleich von mehreren Seiten. Es gibt den Judenhass bei jenen, die religiös-fanatisch sind, und es gibt ihn durch Rechtsextreme. Das ist es eben – die Gefahr ist allgegenwärtig. Am Anfang steht immer das Wort und es endet mit Toten. Das war zu Zeiten des Nationalsozialismus so, das war in den 90er Jahren bei Anschlägen auf Flüchtlinge so. Und das ist auch heute im Zusammenhang mit Antisemitismus so. Dahinter steckt immer ein Prozess.
Hagay Feldheim: Wir merken das heute vor allem in den sozialen Netzwerken. Eine Mehrheit steht dem macht- und wortlos gegenüber. Viele trauen sich nicht zu intervenieren, geben vor, nichts gehört zu haben. Obwohl die Rufe so laut waren. Es fehlen aufrichtige und mutiges Gegenkonzepte. Klare Werte müssen besser vermittelt werden. Auch in den Schulen.
„Diskrepanz zwischen dem, was vorgetragen wird und dem, was wir erleben“
Welche Bedeutung hat der 27. Januar für die Juden in Hagen?
Hagay Feldheim: Der 27. Januar war für uns lange kein zentraler Gedenktag. Diejenigen, die die Shoa überlebt haben, mussten jeden Tag an das denken, was sie erleben, erleiden mussten. Das galt lange Zeit auch für den 9. November. Irgendwann gab es aus politisch linken Kreisen die Initiative. Mittlerweile gibt es offizielle Veranstaltungen. Aber da gibt es immer eine Diskrepanz zwischen dem, was vorgetragen wird und dem, was wir erleben. Manchmal verkommen diese Tage zu einem Gedenken, das man begeht und dann kommt ein Haken dran. Nach dem 27. Januar geht man dann zum Karneval über.