Hagen. Dechant Dieter Aufenanger und der künftige Superintendent Henning Waskönig stehen für mehr Ökumene in Hagen. Ein Interview zum ersten Advent.

Die Adventszeit ist die Zeit der frohen Botschaft. Aber in einer Stadt wie Hagen, die von Flut, Corona und einem vereitelten Anschlag auf die Synagoge der Jüdischen Gemeinde gebeutelt ist, gibt es nicht nur frohe Botschaften. Über die frohen und die weniger frohen und über einen ökumenischen Aufbruch, der Hoffnung macht, sprechen Dechant Dieter J. Aufenanger und der neue Superintendent Henning Waskönig, der ab dem 1. Dezember offiziell in Amt und Würden ist.

Welche Rolle spielt Corona, wie ist in der Adventszeit Begegnung möglich?

Waskönig: Ich gehe nicht davon aus, dass wir in diesem Jahr komplett auf Präsenz-Gottesdienste verzichten. Unter welchen Voraussetzungen: Das wird sich klären. Im Moment gilt 3G, Maske tragen, Abstand. Ich hoffe, dass zumindest an Heilig Abend auch Kinder und Jugendliche, die ja in den Schulen regelmäßig getestet werden, auch noch als getestet gelten. Mittlerweile halten wir sogar Tests bereit.

Aufenanger: Es steht ja im Grundgesetz das Grundrecht auf freie Religionsausübung. Und dazu zählt auch der Besuch des Gottesdienstes. Von daher werden wir ebenfalls nicht auf Präsenz-Gottesdienste verzichten. An den Feiertagen wird es in der Stadt Hagen mindestens einen Gottesdienst geben, der allen zugänglich ist. Dafür werden wir eine große Kirche wählen, damit Abstände zwischen Familien gewahrt werden können. Die meisten Gottesdienste jedoch erfolgen gemäß der 3G-Regel, einschließlich Maske tragen. Und das wird auch streng kontrolliert. Ausnahmen gibt es nicht. Es geht ja auch um den Schutz anderer. Nichtsdestotrotz bleibt es schwierig – wir können heute planen und morgen ist alles Makulatur.

Dieter Aufenanger lietet seit Anfang 2020 das Dekanat Hagen-Witten.
Dieter Aufenanger lietet seit Anfang 2020 das Dekanat Hagen-Witten. © Michael Kleinrensing

Ist 2G eine Option?

Waskönig: Für Gottesdienste? Schwierig. Auch wenn Jesu Wort „Kommet her zu mir alle“ gerecht werden möchte. Ich denke mit Abstand, mit Maske und mit Test sind wir gut aufgestellt. Letztlich wird es darum gehen, welche ergänzenden digitalen oder hybriden Angebote wir in der Weihnachtszeit machen können. Denn traditionell kommen natürlich mehr Menschen. Es wird enger in den Kirchen. Aber fest steht auch: Wir können die Anzahl der Gottesdienste nicht beliebig erhöhen.

Aufenanger: Letztlich habe ich keine Glaskugel. Wenn für alle – und da schließe ich die religiösen und kirchlichen Gemeinschaften ein - in der Öffentlichkeit künftig 2G gilt, weiß ich nicht, ob wir als Kirche bei unserem bisherigen Konzept bleiben können. Aber vorstellen kann ich es mir nur schwer. Letztlich stehen wir in engem und gutem Kontakt mit den Behörden vor Ort, mit denen wir uns absprechen werden. Ich kann nur appellieren: Liebe Leute – lasst euch impfen!

Wie verfolgen Sie denn die öffentliche Diskussion um die Pandemie?

Aufenanger: In einer Predigt habe ich dazu klar Stellung bezogen, mich richtig reingesteigert. Ich habe den Eindruck, für viele – insbesondere bei den verantwortlichen Politikern – kommt diese vierte Welle so „überraschend“ wie das jährliche Weihnachtsfest.

Waskönig: Wenn man nur an die Schulen schaut – da fällt das Maskenverbot, obwohl absehbar ist, dass die Inzidenzen wieder steigen. Bei solchen Entscheidungen sinkt das Vertrauen der Menschen in die Politik.

Hinzu kommt ja, dass es an Weihnachten in den Kirchen voll wird...

Aufenanger: Erst einmal finde ich das gut. Das spiegelt bei sehr vielen Menschen doch eine Sehnsucht nach Heimat, nach Glück, nach dem Schönen wider. In diesen Gottesdiensten an den Feiertagen kann man mit Licht, mit Kerzen, mit Liedern live richtig viel machen. Das ist doch ein anderes Erlebnis als am Fernseher oder am Rechner.

Waskönig: Ich bin glücklich, wenn die Menschen dieser Sehnsucht nachgeben. Wenn sie sagen – da ist etwas, das mich anspricht. Und wenn es am Ende das gemeinsame Singen von „Stille Nacht, heilige Nacht“ ist.

Aufenanger: Wenn dieses Lied nicht kommt, ja, dann fehlt etwas. Das Lied ist nicht kitschig. Es ist auch nicht so, als passe das nicht mehr in die Zeit. Wenn die Menschen in die Kirche kommen, dann ist es doch meine Aufgabe, die Sehnsucht, wie schon erwähnt, noch mehr zu entfachen, das Mystische, das Heilige dieser Nacht auch nahezubringen.

Waskönig: Wir singen immer drei Strophen, aber es gibt sechs. Die anderen drei sind gar nicht so bekannt. In einer hiervon heißt es zum Beispiel: „Stille Nacht! Heilige Nacht! / Lange schon uns bedacht, / Als der Herr vom Grimme befreit/In der Väter urgrauer Zeit/Aller Welt Schonung verhieß/Aller Welt Schonung verhieß.“

Henning Waskönig ist Superintendent der evangelischen Kirche in Hagen.
Henning Waskönig ist Superintendent der evangelischen Kirche in Hagen. © WP | Michael Kleinrensing

Corona ist eine Herausforderung in der Adventszeit – aber vor welchen Aufgaben stehen die Kirchen in Hagen denn noch?

Aufenanger: Die Bevölkerungsstruktur wird sich wandeln. Das ergibt sich schon durch die vielen Zuzüge nach Hagen. Ich glaube nicht, dass die Menschen weniger religiös sind, aber doch weniger christlich orientiert. Für uns geht es darum, das Evangelium als Frohe Botschaft zu verstehen. Den Menschen deutlich zu machen: Das, was ihr sucht, das haben wir im Angebot: In den Gottesdiensten der verschiedenen Art, bei der Diakonie, bei der Caritas, in unseren Beratungsstellen. Strukturell haben wir uns darauf eingestellt, dass wir weniger werden. Jetzt geht es darum, wie wir Glauben heute für Morgen gestalten können. Dazu kann auch ein Kochkurs gehören, in dem die Teilnehmenden durchaus „über Gott und die Welt“ miteinander ins Gespräch kommen. Wir werden zwar weniger Kirchenbesucher zu haben, aber unsere missionarische Aufgabe bleibt, caritativ-diakonisch tätig zu sein. Es geht nicht darum, dass „Gebäude Kirche“ zu füllen, sondern die „Kirche Gottes als Gemeinschaft der Glaubenden“.

Waskönig: Es ist sinnvoll, die Möglichkeiten von Kooperationen noch stärker zu nutzen. Bis 2060 werde sich die Gemeindeglieder halbiert haben. Das liegt zur Hälfte an der Demographie. Die andere Hälfte können wir als Kirche noch beeinflussen. Wir werden kleiner werden. Aber wir müssen auch acht geben, dass wir uns nicht nur mit uns selbst beschäftigen. Es ist Anspruch, dass wir Licht in der Welt sind. Wir haben etwas mitzuteilen. Wir wollen Lichtpunkte setzen – trotz aller strukturellen Probleme. Wir wollen uns zusammentun mit allen die guten Willens sind, sich für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen.

Was verbindet die Kirchen denn?

Aufenanger: Viel mehr, als gemeinhin gesagt wird. Und diese Erkenntnis, dass wir nicht alleine unterwegs sind, setzt sich auch mehr und mehr durch. In Halden beispielsweise haben wir eine wunderbare ökumenische Christvesper an Heiligabend. Da geht ganz Halden hin. Auf mich sind auch schon evangelische Paare zugekommen, die wollten gerne in einer kath. Kirche heiraten, weil sie das Gotteshaus so schön fanden.

Waskönig: Die Pfarrpersonen werden weniger, die Gemeindeglieder werden weniger, die Gebäude aber nicht entsprechend. Dem gegenüber steht ein lang gelebtes Bild, dass die Pfarrer vor Ort sind und mit den Menschen leben. Das hat was für sich. Aber wir werden das nicht aufrechterhalten können. Das Ehrenamt bekommt eine andere, wichtige Funktion. Für uns stellt sich die Frage, wie die Transformation gelingt und wo Lichtpunkte entstehen können.

Aufenanger: Das stimmt. Es gilt nicht mehr: Eine Gemeinde, ein Pfarrer, ein Leben lang. Es ist zurzeit schön, mitzuerleben, wie sich viele Menschen einbringen, wie neue Ideen entstehen, wie man Glauben auch ohne Hauptberufliche leben kann. Dahinter steckt die eigene Taufberufung und diese neu zu entdecken und mit Leben zu füllen. Wie bei den Aposteln – und Jesus hatte nur zwölf – und da waren einige Chaoten dabei…

Waskönig: Raum zu schaffen, damit Menschen sich engagieren können, das ist eine der neuen Aufgaben für Pfarrpersonen. Es geht darum, Impulse zu nutzen.

Aufenanger: Das verändert ja auch das Priesterbild – nicht „der da oben“ ist allein maßgeblich. Es geht darum, als pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Menschen die Möglichkeit zu geben, Dinge auszuprobieren, das Evangelium mit Leben zu füllen.

Muss nicht auch die Entlastung der Pfarrerinnen und Pfarrer stärker in den Fokus rücken?

Waskönig: Ja. Und das ist die katholische Kirche durchaus einen Schritt voraus. Den Pfarrern werden Menschen an die Seite gestellt, die sich um eine geschäftsführende Ebene kümmern. Es gibt schon bei uns den Druck, dass man für das administrative und die bürokratischen Herausforderungen immer mehr Zeit aufwenden muss.

Aufenanger: Als junger Mensch wählt man ja diesen Beruf, weil man Dinge bewegen möchte. In der Tat: Für jeden leitenden Pfarrer gibt es seit drei Jahren eine zusätzliche Verwaltungsleitung. Das ist eine riesige Entlastung. Das ermöglicht uns, das Geistliche wieder mehr in den Blick zu nehmen. Auf der Ebene der Gemeinden und Pastoralen Räume ist dies eine sehr gute neue Einrichtung. Inwieweit nun auch auf der Ebene der Dekanate diesbezüglich neue Strukturen möglich sind, wird sich zeigen. Doch ich bin froh, hier vor Ort mit einem starken und motivierten Dekanatsteam arbeiten zu können.

Mitte September ist ein Anschlag auf die Synagoge vereitelt worden. Welche Rolle müssen Kirchen im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus spielen?

Aufenanger: Papst Johannes XXIII. hat schon gesagt: „Die Juden sind unsere älteren Brüder und Schwestern.“ Vor diesem Hintergrund ist es mir völlig unverständlich, wie Christen antisemitisch denken und handeln können. Es ist wichtig, falsche und boshafte Behauptungen immer wieder deutlich zu benennen. Durch Corona und die Flut haben wir es vielleicht versäumt, auch über den eigenen Tellerrand zu schauen. Der Anschlag hat uns das noch einmal bewusst gemacht. Die Juden sind Schwestern und Brüder – und Mitbürger unserer Stadt. Es braucht ein Licht – so, wie wir es vergangene Woche erlebt haben.

Waskönig: Es ist in der Woche „Aus dem Dunkeln ein Licht“ ja deutlich geworden: Es darf nicht bei Worten bleiben. Bei allem, was man vielleicht auch schon tut – es dringt eben nicht zu allen vor. Es gibt mit dem alten Testament ein jüdisch-christliches Erbe. In dieser Woche von Jüdischer Gemeinde, Lutz und Kultopia hätten auch die Kirchen gut in diese Reihe gepasst. Für uns ist der Auftrag zu gucken, wo ist künftig Kooperation möglich. Wir bringen uns gerne mit unseren Multiplikatoren und Multiplikatorinnen ein.

Es gab ja mal den runden Tisch der Religionen – hat der wieder eine Perspektive?

Waskönig: Es gibt beispielsweise den Wunsch bei uns in der Stadtkirchengemeinde nach Friedensgebeten. Aber die müssen sich ja in Hagen nicht nur auf Christen beschränken. Den Wunsch nach Frieden verspüren doch ganz viele Menschen unterschiedlichster Religionen. Und so stellt sich natürlich die Frage, wie man an den runden Tisch wieder anknüpfen kann. Aber: Es gab offenbar auch Kränkungen und Verletzungen.

Aufenanger: Da bedarf es kleiner Schritte, um das zu überwinden. So wie Protestanten und Katholiken über Jahrhunderte nebeneinander hergelaufen sind, so gilt das für Christen und andere Religionen. Wir müssen uns auf das besinnen, was uns verbindet. Es mag schwierig sein, da anzuknüpfen. Aber aufgeben dürfen wir nicht.

Waskönig: Wir sind am Ende wenige unter vielen. Aber wir sind bereit. Wir wollen Impulsgeber sein. So wie das ja auch bei der „Sozial gerechten Stadt Hagen“ der Fall war. Da haben Kirchen und Gewerkschaft sehr eng miteinander kooperiert.

Es ist Advent – was ist die zentrale Botschaft?

Aufenanger: Trotz allem, trotz Corona: Nicht entmutigen lassen! Mit der frohen Botschaft – Gott wird Mensch in Jesus Christus – haben wir ja etwas, an dem wir uns orientieren und aufrichten können. Jesus hat uns versprochen: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende dieser Welt.“ Erfahrbar im Miteinander zwischen den christlichen Konfessionen, den Religionen und auch der Menschen, die einander helfen und sich umeinander sorgen – gleich welchen Glaubens. Es ist nicht nur eine Reaktion auf unsere Strukturprobleme. Es macht Spaß, mit der Stadt, mit dem DGB, mit anderen Glaubensgemeinschaften gemeinsam etwas zu bewegen.

Waskönig: Da kann ich nur zustimmen. Wir können diejenigen sein, die den Blick auf Gott offenhalten, die den Himmel ein Stück öffnen. Offiziell bin ich ja erst ab dem 1. Dezember Superintendent. Aber ich freue mich schon jetzt auf ökumenischen Zusammenarbeit. Ich blicke positiv auf die kommenden Jahre. Wir müssen miteinander die Fragen bestimmen, die in Stadt und Kirche akut sind. Und übrigens: Zur Beantwortung sind wir auch da.