Arnsberg. Vom „unbegleiteten minderjährigen Flüchtling“ zum erfolgreichen Straßenbauer. So kann Integration in Arnsberg mit Unterstützung laufen.
Wenn er an seine erste Zeit in Arnsberg zurückdenkt, wird seine Stimme ruhiger. Ernster. Der junge Mann aus Afghanistan, der immer gut gelaunt ist und gern mal einen Spruch raushaut, wirkt nachdenklich. Aber auch stolz, wenn er daran denkt, wie viele Ziele er als ehemaliger Analphabet und „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“ bereits erreicht hat.
Im deutschen Asylverfahren gelten Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren als minderjährig. Reisen diese ohne Begleitung eines für sie verantwortlichen Erwachsenen ein oder werden dort ohne Begleitung zurückgelassen, gelten sie als unbegleitete Minderjährige. Das Jugendamt Arnsberg betreut mit Stand vom 19. September 38 minderjährige Flüchtlinge, davon sind vier weiblich. „Die Zuweisungsquote beträgt aktuell 45, so dass noch sieben Menschen aufgenommen werden müssten“, so Stadtsprecherin Ramona Eifert.
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2015. Nazrat Safe lebt in der Nähe von Kundus, im Norden Afghanistans. Seine Mutter starb bei der Geburt seines kleinen Bruders, sagt er, sein Vater wurde von den Taliban getötet, als er zwölf Jahre alt war. Zunächst lebte er bei seiner Oma und seinem Onkel - ging nie zur Schule, lernte weder Schreiben noch Rechnen, hütete Schafe und Kühe. Bis er im Alter von 15 Jahren selber ins Visier der Taliban geriet. Er flüchtete.
Angekommen in Arnsberg lernt er Karola Hilborne-Clarke kennen, eine Lehrerin in Rente, die sich ehrenamtlich kümmert. „Sie hat mir sehr viel geholfen“, sagt Nazrat Safe, „mir alles beigebracht.“ Es sei alles neu für ihn gewesen - unbekannt. „Es ist total schwierig - ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukommt, konnte die Sprache nicht.“ In seiner Heimat habe es vieles nicht gegeben. Lesen und schreiben konnte er auch in seiner Erstsprache nicht. „Karola hat mir alles beigebracht.“ Gleichzeitig lebt er in einer vom Jugendamt betreuten Wohngemeinschaft.
Alleinreisende minderjährige Flüchtlinge werden betreut
In den sogenannten Brückenlösungen werden Jugendliche ab 15 oder 16 Jahren ambulant betreut. Dazu hat das Jugendamt oder der freie Träger Wohnraum angemietet, in denen die Jugendlichen ambulant betreut werden, so die Stadtverwaltung. Die Lebenshaltungskosten bestreitet bis zum Ende des Clearings und bis zur Entscheidung über den weiteren Hilfeverlauf das Jugendamt. „Zudem bekommt jeder unbegleitete minderjährige Flüchtling einen Vormund zur Seite gestellt“, so Eifert weiter. Leben die Kinder bei Verwandten, existiert oftmals eine Vollmacht, die die Bestellung eines Vormundes entbehrlich macht.
Erfolgsgeschichte aus Arnsberg: Wie ein afghanischer Analphabet seinen Traum realisierte
Unbegleitete Minderjährige werden zunächst durch das vor Ort zuständige Jugendamt in Obhut genommen. Im Rahmen dieser vorläufigen Inobhutnahme werden sie bei einer geeigneten Person oder in einer geeigneten Einrichtung untergebracht.
Geeignete Personen können Verwandte oder Pflegefamilien sein, geeignete Einrichtungen sind in der Regel sogenannte Clearinghäuser, die auf die Betreuung von Unbegleiteten Minderjährigen spezialisiert sind, oder Jugendhilfeeinrichtungen. Sie sollen ein stabiles Aufwachsen der jungen Menschen sicherstellen.
Quelle: bamf.de
Sechs der Arnsberg zugewiesenen Minderjährigen sind außerhalb der Stadt untergebracht, eine Person ist in einer Gastfamilie. Acht Minderjährige befinden sich im Rahmen der Inobhutnahme in einem Clearingverfahren, einer wurde vorläufig in Obhut genommen (der Zuweisungsbescheid des LVR wird erwartet), für 21 Flüchtlinge wird Hilfe zur Erziehung gewährt, weitere acht erhalten Hilfe für junge Volljährige.
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Nazrat besuchte die Berufsschule, machte 2018 seinen Hauptschulabschluss und begann eine Ausbildung „aufm Bau“, wie er sagt. Als Straßenbauer bei Knispel. „Erst wollte ich Erzieher werden, hatte sogar ein Praktikum in einer Schule - mit Kindern arbeiten. Aber dafür brauchte ich Fachabitur. Das war mir zu schwer.“ Auch seinen Zweitwunsch, in der Altenpflege zu arbeiten, cancelte er. „Ich habe einmal erlebt, wie jemand gestorben ist - das ist nichts für mich.“
Auf dem Bau fühlt er sich wohl - arbeitet seit Ende seiner Ausbildung auch weiter dort. „Aber es gab auch schwierige Zeiten. Oft wollte ich alles hinschmeißen!“ Als er 18 Jahre alt wurde, musste er das Asylverfahren durchlaufen, wird erst abgelehnt, dann wegen seiner Ausbildung geduldet. „Ich ging nicht mehr zur Schule - wofür auch? Aber Karola hat mich aufgefangen - motiviert. Und dann habe ich weitergemacht.“ Er spielt Cricket, engagiert sich ehrenamtlich und schließt Freundschaften.
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„Ohne Sprache bist du nichts!“
Heute blickt Nazrat Safe stolz in den Spiegel. „Ich habe alles erreicht, was ich wollte, bin rund um die Uhr beschäftigt“, sagt er. „Ich arbeite, mache Sport - manchmal zu Hause, manchmal im Fitnessstudio. Ich habe jeden Morgen an mich geglaubt - und es dadurch geschafft.“ Genau das empfiehlt er auch anderen Jugendlichen, die als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Arnsberg kommen: „Sie sollen etwas aus sich machen. Zur Schule gehen, die Sprache lernen. Ohne Sprache bist du nichts! Sie sollen ihren Schulabschluss machen und eine Ausbildung - viele wissen gar nicht, welche Vorteile sie mit einer Ausbildung haben.“
Aktuell denkt der 25-Jährige darüber nach, sich nebenberuflich im Garten- und Landschaftsbau auszutoben. Bleibt dafür Zeit neben Job, Sport und Freundin? „Ja, es gibt doch Wochenenden“, sagt er selbstbewusst.
Für Nazrat Safe zählt aber zunächst noch ein anderes großes Ziel: die Deutsche Staatsbürgerschaft. „Ich kann sie erst nächstes Jahr im Oktober beantragen“, sagt er, „ich hoffe, dass ich alle Voraussetzungen erfülle.“