Brilon/Bleiwäsche. Nicht verzweifeln, nicht hadern - als das Leben ihrer Tochter nach einer Hirnblutung am seidenen Faden hängt, mobilisiert Anja Baum all ihren Mut.
„Warum ausgerechnet wir?“ Das fragen sich viele Menschen, die in ihrem Leben einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen müssen. Anja Baum hat sich diese Frage nie gestellt. Selbst dann nicht, als das Leben ihrer eigenen Tochter am seidenen Faden hing. Sie fragt sich vielmehr: „Warum überhaupt?“ Aber auch darauf findet sie keine wirkliche Antwort.
Viel Leid und viel Verzweiflung hat sie gesehen in den Reha-Kliniken, in denen sie mit ihrer Tochter Alena gewesen ist. „Stellen Sie sich darauf ein, dass ihr Kind ein Pflegefall wird“, sagen ihr die Ärzte. „Und die geht hier auf eigenen Füßen wieder aus“, rebelliert die Mutter.
Der 4. Juni 2008 ändert für Anja Baum alles
Noch immer rätselt die 51-Jährige, woher sie diese Kraft geschöpft und wer ihr diesen Mut gegeben hat. Beim Gebet in einer Krankenhauskapelle stößt sie auf den Text des Theologen Dietrich Bonhoeffer: „Von guten Mächten wunderbar geborgen…“ Sie ist davon überzeugt: Es gibt da etwas Unsichtbares, das sie hält.
Anja Baum ist eine Powerfrau. „Ich habe immer Vollgas gegeben.“ Sie mischt überall mit: bei der KFD, bei der CDU, im Pfarrgemeinderat, im Karnevalsverein. Die damalige Filial-Leiterin eines Modefachgeschäftes steht mit beiden Beinen im Leben.
Der 4. Juni 2008 ändert sich all das auf einen Schlag. Abends geht ihre Tochter noch ganz normal schlafen; morgens um halb sechs liegt sie schreiend im Bett. „Sie war schon nicht mehr ansprechbar, reagierte nicht mehr. Auf dem Weg zum Krankenhaus musste sie beatmet werden“, schildert Anja Baum die schlimmsten Minuten ihres Lebens. Untersuchungen, CT, Diagnose: Alena hat einen Blutschwamm im Kopf. Der ist geplatzt. Trotz aller Risiken muss operiert werden. Eine denkbar unglückliche Stelle. Ihre Überlebenschance tendiert gen Null.
Jahre der Entbehrung und der Anspannung
„Eine Gehirnblutung ist nicht wie ein Beinbruch oder eine Grippe. Und heute bin ich froh, dass ich kein medizinisches Wissen hatte. Denn vielleicht hätte ich dann aufgegeben, an mein Kind zu glauben“, sagt Anja Baum.
Eine Psychologin rät ihr damals, sie möge einen Heimplatz für Alena organisieren, ansonsten würde ihre ganze Familie leiden und kaputt gehen. „Spätestens da wusste ich: Das wird niemals passieren. Sie kannte mich nicht, unsere Familie nicht und sie kannte das Zauberwort nicht: Liebe.“
Es folgen viele Jahre, in denen sich bei der Familie Baum – Vater Ralf, Mutter Anja, Tochter Larissa und Tochter Alena – alles nur um die Jüngste dreht. Jahre, der Entbehrung, der Anspannung, des Umbruchs. „Mein Mann und ich haben uns immer aufeinander verlassen können. Ja, manchmal hat es auch gekriselt. Aber dieses blinde Vertrauen hat uns beiden sehr geholfen.“
Viele Therapien auf eigene Kosten
Unzählige Therapien werden gemacht und wenn die Kasse nicht zahlt, bringen die Baums den letzten Cent für ihre Tochter auf. Es gibt keine gemeinsamen Urlaube. Es gibt aber drei Delfin-Therapien, bei denen die ganze Familie (auf eigene Kosten) Alena begleitet und sich an den unglaublichen Heilerfolgen erfreut. Und es gibt richtig dumme Leute, die der Familie Baum ernsthaft ins Gesicht sagen: Das hätte ich auch gern mal: so eine Delfin-Reise aus Spendengeldern finanziert.
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Freundschaften gehen entzwei, aber neue werden geschlossen. „Ich bin dankbar für jeden einzelnen, der uns auf diesem Weg begleitet hat - durch Worte, durchs Einfach-Nur-Dasein oder die Unterstützung bei der Delfintherapie.“ Sehr hilfreich ist die Offenheit, mit der die Familie mit der Erkrankung umgeht. „Ich habe unzählige Menschen gefragt, welche Therapien Alena helfen können und Doktor Google wurde mir ein guter Freund. Wenn ich heute überlege, wie viele Kilometer wir gefahren sind, wie viele Stunden wir verbracht haben, um eine passende Schule für Alena zu finden, kann ich es selber oft nicht glauben.“
Hauptschule Niederntudorf nimmt Alena Baum auf
„Alena war im Kopf fit, sollte aber auf eine Schule, wo sie mit Sicherheit resigniert hätte.“ Also telefoniert Anja Baum, rennt Türen ein, bis sie Gehör findet, zieht Gutachter auf ihre Seite. „Dem bin ich heute noch sehr dankbar und der Hauptschule in Niederntudorf auch, weil sie es probiert hat, mit einem nicht sprechenden Kind den Unterricht zu wagen. Alenas glückliches Gesicht in einer normalen Schule, zwar im Rollstuhl, aber ein wenig Normalität – das war unbezahlbar.“
Reden, reden, reden – hat Anja Baum für sich als hilfreiche Methode kennengelernt. Auch selbst geht sie heute auf Leute zu, spricht sie an, bietet sich als Zuhörer an.
Was sie selbst nicht leiden kann, ist Mitleid. „Dann blocke ich sofort ab; ich kann das nicht annehmen.“ Und weinen, weinen kann sie nur im stillen Kämmerlein, wenn die Tochter oder der Therapeut nicht dabei sind. „Man weint gar nicht mal aus Selbstmitleid oder Verzweiflung. Ich habe geweint, weil ich oft Angst hatte, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein, es nicht zu schaffen. Aber immer, wenn es überhaupt nicht mehr ging, kam von irgendwoher ein Lichtlein…“ Eines dieser Lichtlein ist die Begegnung mit der Sportjournalistin Monica Lierhaus, die auch an einem Hirn-Aneurysma erkrankt war und sich seitdem in dieser Sache engagiert.
Große Freude über Therapie-Fortschritte
Im Herbst startet Alena ihr Berufsbildungsjahr. Es geht also voran, in kleinen Schritten und von guten Mächten begleitet. „Wir haben uns immer gefreut, wenn Alena irgendetwas Neues kann, was sie vorher nicht konnte. Wir haben uns aber nie davon entmutigen lassen, wenn sie etwas noch nicht kann.“
Alles im Leben ist eine Frage der Perspektive, der Betrachtungsweise. „Warum ausgerechnet wir?“, ist für Anja Baum keine Frage. Wer das nicht versteht, der sollte sich das unglaubliche Leid in den vielen Reha-Einrichtungen ansehen. Anja Baum kommt daher zu dem Schluss: „Was haben wir für ein Wahnsinnsglück gehabt.“