Mit seinen Depressionen ging der Polizeibeamte immer offen um. Im Ruhestand hilft er nun Betroffenen, mit der Krankheit zu leben.

Reiner Stephan könnte sich einfach zurücklehnen und nichts tun. Er ist im Ruhestand, er könnte die Zügel lockerlassen, Enten füttern oder einfach auf der Parkbank sitzen. Aber da ist der ehemalige Polizeibeamte nicht der Typ für, und mit jedem seiner Worte wird das klar. Dabei hat ausgerechnet er die Erfahrung machen müssen, dass manche Menschen ihm plötzlich nichts mehr zutrauten, als er offen über seine Depressionen sprach. Und doch blieb er stets bei dieser Offenheit, „weil ich es immer besser gefunden habe. Lügen – was soll das?“

Im Jahr 2010, nach einem Dienststellenwechsel, fing es an, sagt der heute 64-jährige Dreis-Tiefenbacher. Zuvor war er lange im Verkehrsdienst eingesetzt, war draußen, hatte mit Menschen zu tun. Nun hatte er eine Stelle im Innendienst, eigentlich eine bessere Position, aber mit höherem Arbeitspensum und einem Aufgabenberg, der niemals kleiner wurde, weil ständig Nachschub auf den Schreibtisch kam. „Ich habe mich richtig reingekniet“, sagt Reiner Stephan. „Ich bin ein Mensch, der ein ganz hohes Pflichtbewusstsein hat. Ich habe mich nie hängen lassen.“

Permanent im Stress-Modus

Er konnte sich nicht mehr richtig konzentrieren. Der Blutdruck ging rauf. Reiner Stephan hat eine „agitierte Depression“: „Der Körper fährt alles hoch“, erklärt er. Er konnte nicht mehr sitzen, nicht mehr schlafen, „das ist wirklich Folter“. Der Körper schüttet vermehrt das Stresshormon Cortisol aus, fährt für die Regulierung und Stabilisierung der Stimmung unerlässliche Hormone wie Serotonin und Dopamin herunter. „Man fährt immer mehr nur noch auf dieser Stressschiene“, sagt Reiner Stephan. Gleichzeitig „merkt man aber auch, wie man immer mehr ins Grübeln kommt“. Die für Depressionen typische Gedankenspirale kommt in Gang: Überforderungsgefühle, Selbstzweifel, die sich immer mehr verstärken.

Fast ein Jahr lang war der Polizeibeamte nicht arbeitsfähig, vier Monate verbrachte er in einer Klinik. Danach kehrte er zurück, auf eine andere Stelle, diesmal wieder im Außendienst. Er vertrat den Dienststellenleiter, übernahm Planungsaufgaben, „das hat mir viel Spaß gemacht“. Über seine Erkrankung sprach er offen, trotz der Stigmatisierung, die damit auch heute noch verbunden ist. Mit den Kollegen lief es gut, „aber ich hatte schon den Eindruck, dass viele Vorgesetzte Probleme hatten, damit umzugehen“.

Als 2016 eine familiäre Belastungssituation hinzukam, kehrten die Symptome zurück. „Das kam mit der beruflichen Situation zusammen“, sagt der Vater dreier erwachsener Kinder. Jeder Faktor für sich wäre zu bewältigen gewesen, „aber so war es das Gesamtpaket“.

Helfen, wenn der Alltag schwer wird

Noch einmal war er für längere Zeit krankgeschrieben, noch einmal verbrachte er vier Monate in einer Klinik. Wichtig sei für ihn gewesen, dass er im Anschluss noch einmal für drei Monate arbeiten konnte, „dass es nicht direkt von der Krankheit in den Ruhestand überging“ – weil ihm das zeigte, dass er die neue Krise wirklich überwunden hatte. Er weiß, was er kann, und er weiß, dass er leistungsfähig ist – wie viele Menschen mit Depressionen es sind. Auch das möchte er vermitteln. „Ich habe immer wieder gemerkt, dass man Betroffenen nicht mehr viel zutraut, dass sie abgewertet werden. Das hilft nicht, denn das ist nicht gut fürs Selbstvertrauen. Was hilft, ist Zuspruch – wenn man den Leuten eben doch etwas zutraut.“

Heute ist Reiner Stephan jemand, den er sich selbst in seinen Krisenzeiten gewünscht hätte. Er arbeitet zwei Mal die Woche halbtags in zwei Tageseinrichtungen der Reselve, macht mit den Besucherinnen und Besuchern Sport, geht mit ihnen einkaufen, leitet eine Selbsthilfegruppe. Grundlage ist das Projekt „Experienced – Involvement“ (Ex-In), auf das er durch Zufall aufmerksam wurde.

Weitere Mutmacher in der Region:

Hervorgegangen aus einem EU-Pilotprojekt werden psychiatrieerfahrene Menschen ausgebildet, um akut Betroffene zu unterstützen. Voraussetzungen: Die Kandidatinnen und Kandidaten müssen selbst erkrankt gewesen und inzwischen stabil sein. Das Erfahrungswissen, erläutert Reiner Stephan, macht die Begleiter so wertvoll. Ärzte und Therapeuten kennen die Gefühle und den Leidensdruck ihrer Patienten meist nur aus der Theorie. „Ich kann mich hineinversetzen.“

Einen wie ihn hätte er sich gewünscht

Was in Depressiven vorgeht, ist für nicht Betroffene kaum nachzuvollziehen. Eine Depression hat mit gewöhnlichem – und nicht weiter bedenklichem – Schlechtdraufsein nichts zu tun. Und wer die Erfahrung nicht selbst gemacht hat, wird auch kaum nachvollziehen können, warum es fast unüberwindlich schwierig sein kann ans Telefon zu gehen oder den Einkauf zu erledigen; wie Antriebslosigkeit und Leere jede Regung ersticken können. Reiner Stephan aber versteht, auch ohne viele Worte – und genau das ist einer der Aspekte, der anderen so sehr hilft: „Das hätte auch ich gerne gehabt. So jemanden hätte ich mir damals gewünscht.“

Die Ex-In-Ausbildung umfasste zwölf jeweils dreitägige Module zu verschiedenen Themen, außerdem zwei Praktika. Essenziell war für den Polizeibeamten im Ruhestand der Austausch mit den anderen Teilnehmern, der Einblick in ihre Lebens- und Leidensgeschichten – nicht nur Depressive, auch Menschen mit Essstörungen, bipolaren Störungen oder überwundener Sucht. „Da ging’s schon ans Eingemachte. Diese Ausbildung war für mich wie zwei oder drei Therapien auf einmal.“

Der Krankheit ein Gesicht geben

Reiner Stephan ist außerdem beim Bündnis gegen Depressionen in Siegen-Wittgenstein und engagiert sich im Projekt „Irrsinnig menschlich“, das die Reselve mit Partnern bietet. Fachleute besuchen Schulklassen und arbeiten mit ihnen zum Komplex „Seelische Krisen“. Reiner Stephan erzählt seine Geschichte, gibt dem Thema ein Gesicht – und steht dafür, dass Krisen sich überwinden lassen, auch wenn es ein schwieriger Weg ist. Das Feedback der Jugendlichen sei sehr positiv, viele „finden es stark, dass ich das mache“.

Wie offen Betroffene damit umgehen, müsse jeder selbst abwägen, rät Reiner Stephan. Ihm tut es gut. „Ich habe gemerkt: Die Depression gehört zu meinem Leben. Warum sollte ich das verschweigen?“ Gerade im beruflichen Umfeld allerdings empfiehlt er, genau zu überlegen, wen man ins Vertrauen zieht – weil Stigmatisierung und mangelndes Wissen gerade bei Vorgesetzten sonst Nachteile zur Folge haben könnten. Auf keinen Fall aber sollten Betroffene sich komplett verschließen. „Es ist wichtig, dass man mit jemandem redet; einem Freund, einem Angehörigen, zu dem man Vertrauen hat. Versuchen, damit allein fertig zu werden: Das klappt nicht.“


Mehr Nachrichten, Fotos und Videos aus dem Siegerland gibt es hier.

Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook.