Essen. Die Dokumentation „Little Richard: I Am Everything“ nähert sich einem zwischen Gott, Sex und Rock’n’Roll zerrissenen Musikpionier.
Die Bilder am Ende hätte es gar nicht mehr gebraucht. Nach den eineinhalb Stunden von „Little Richard: I Am Everything“ (am 5. April um 21.45 Uhr auf Arte) ist man ohnehin überzeugt, dass der 2020 verstorbene Mann, den sie den „Architekten des Rock’n’Roll“ nannten, genau das war: ein bahnbrechender Wegbereiter, der unzähligen Künstlerinnen und Künstlern überhaupt erst eine Richtung aufgezeigt hat. Aber es ist dann doch nochmal eindrucksvoll zu sehen, wie der preisgekrönte Film von US-Regisseurin Lisa Cortés kürzeste Schnipsel von Michael Jackson, Prince, Elton John, Led Zeppelin, Boy George, Freddie Mercury, David Bowie, Lady Gaga, Harry Styles und vielen mehr einblendet – nur um direkt Material von Little Richard dagegen zu montieren, an dem deutlich wird, wie viel von dessen Gesang, Gestik, Mimik, Flamboyanz und Geschlechtergrenzen sprengendem Auftreten diese übernommen haben.
Dass der „kleine“ Richard der Größte ist, hat die Doku da längst auch im O-Ton geklärt: Die Beatles habe er 1962 mit nach Hamburg genommen, die Rolling Stones als Vorgruppe mit auf Tour, Jimi Hendrix sei Gitarrist seiner Band gewesen und James Brown dort Sänger, und Elvis habe ihm Backstage gesagt, er sei der wahre „King“ des Rock’n’Roll – alles zumindest in den Grundzügen wahr und zum Teil von den Genannten sogar im Interview bestätigt.
„Little Richard: I Am Everything“: Massenhaft Archivmaterial
Denn das ist ein großer Trumpf dieses Films, der inhaltlich kaum etwas Neues zu berichten weiß: Neben extra für die Produktion geführten Gesprächen mit Weggefährten wie Tom Jones und Mick Jagger sowie Angehörigen und Wissenschaftlern fährt die Dokumentation eine Fülle von Archivmaterial auf. Darunter sind auch unzählige Interview- und Konzertausschnitte von Little Richard selbst, der so zum (unzuverlässigen) Kronzeugen seiner selbst und heimlichen Erzähler des Films wird. Wenn er also vom Klang der Waschbretter seiner Jugend in den 1930er-Jahren in Macon, Georgia erzählt, von roten Cadillacs, dem Schreien des jungen Paul McCartney oder seinem schillernden Spiegel-Anzug, dann hört und sieht man all das auch sofort.
Das Leben des 1932 als Sohn eines Pastors und drittes von zwölf Kindern geborenen Richard Wayne Penniman, der mit Gospelmusik auf- und ihr schließlich entwuchs, erzählt der Film dabei nicht einfach als Aufstiegs- oder Geniegeschichte. Vielmehr versucht er eine Annäherung (und bei der bleibt es stets) an eine schillernd uneindeutige Persönlichkeit, und das auch durch die politische Brille der Gegenwart: Das frenetische Klavierspiel und raspelige Kreischen von Hits wie „Tutti Frutti“ und „Long Tall Sally“ interpretieren die Beobachter als Ausdruck eines nicht nur im sexuellen Sinne „queeren“ Menschen; Little Richards ganze Karriere ist hier auch ein Aufbegehren und Ausbrechen eines gottesfürchtigen, aber den Ausschweifungen des Rock zugeneigten schwarzen Homosexuellen, der sich einer rassistischen, arg konservativen Gesellschaft gegenüber sah, die ihn fürchtete, prügelte und ihm seine Songs in Form „weißer“ Coverversionen stahl.
Eine zerrissene Gallionsfigur des Rock‘n‘Roll
Schön heraus kommt dabei all die Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit der Person Little Richard: Auf die Konventionen der Mehrheitsgesellschaft pfiff er, rang aber bis zuletzt um ihre Anerkennung. Er war schwul, schlief aber auch mal mit Frauen. Mehrmals wendete er sich jahrelang von seiner „Teufelsmusik“ Rock’n’Roll ab, um als Prediger und Gospelsänger das Wort Gottes zu verbreiten, kehrte aber stets wieder zu einem Leben voller Sex, Drogen und greller Exaltiertheit zurück. Er war ein großzügiger Menschenfreund, nahm es jedoch mit der Wahrheit nicht immer genau.
„Ein Urknall“ sei Little Richard in jeder Hinsicht gewesen, sagt eine Forscherin an einer Stelle, gewissermaßen alles gleichzeitig, wie der Film es ihm schon im Titel unterstellt. Little Richard selbst nennt sich in seiner Autobiografie einen „Quasar des Rock“ – so bezeichnet man das strahlend hell leuchtende Zentrum einer Galaxie. Die Metapher gefiel der Filmemacherin so gut, dass sie drei Schlüsselszenen aus dem Leben von Little Richard von jungen Musikern reinterpretieren ließ, Sternenstaub-Effekte über das Bild streute und assoziative Bildmontagen von aufblühenden Pflanzen, Pfauenrädern und Josephine Baker im Bananenröckchen dazustellte. Ein unnötiges Gimmick einer sonst überzeugenden Doku – oder aber doch genau der richtige Weg, sich einer solchen Naturgewalt von Mensch zu nähern.
Vier von fünf Sternen.