Essen. „Hackney Diamonds“ von den Rolling Stones: Freitag erscheint genau das Album, das sich die Fans erhofft haben dürften. Es ist exzellent geworden.
Was macht dieses Album für einen Spaß! „Bite My Head Off“, um gleich mal einen Song rauszupicken, der besonders köstlich geraten ist, lässt sich tatsächlich in die Schublade mit der Aufschrift „Punkrock“ einsortieren. Herrlich, wie herzlich angepisst Mick Jagger hier einer Dame, die ihn offenbar hat hängen lassen, Unflätiges hinterherbrüllt. Irgendwann holt er mit dem dazwischengerufenen „Come on Paul, let’s hear something“ noch den Kollegen McCartney mit rein, der ein bisschen Bass spielt! Fertig ist die wunderbar räudige und skrupellos knackige Nummer, die exemplarisch steht für dieses Album von drei Herrschaften, die offenbar in einen ziemlich tiefen Jungbrunnen gefallen sind.
„Hackney Diamonds“ ist nicht das Album deiner Opas. Man hätte durchaus ein Alterswerk befürchten können, denn erstens sind die Rolling Stones ja wirklich alt (Mick Jagger ist 80, Keith Richards wird es bald, Band-Küken Ron Wood ist 76). Und zweitens waren sie ziemlich aus der Übung. Das letzte Album 2016 („Blue & Lonesome“) war eine ehrenwerte Neueinspielung von Bluescoverstücken, eine – relativ mediokre – Sammlung neuer Stücke gab es zuletzt mit „A Bigger Bang“ 2005, danach hier und da mal einen Song, zuletzt „Living In A Ghost Town“ 2020. Doch die Stones, und das kann man ihnen kaum hoch genug anrechnen, zeigen nicht nur der Hüftsteifheit, sondern auch der Nostalgie die kalte Schulter. Es gibt kaum Einlassungen über die Vergänglichkeit allen Seins, auch wenig bis gar kein „Früher-war-alles-geiler“-Genöle.
Mick Jagger und die TikTok-Kids in „Mess It Up“: eine Ausnahme. Ansonsten: Rock’n’Roll
Allenfalls Jaggers Flirt mit den TikTok-Kids im ansonsten doch ganz knusprigen und tanzbar dynamischem Temporocker „Mess It Up“ fischt in leicht alterspeinlichen Gefilden, wenn sich Mick darüber echauffiert, dass die Liebste ein Foto von ihm mit allen ihren Freundinnen und Freunden geteilt hat.
Ansonsten: Rock’n’Roll. Seit Jahrzehnten klangen die Rolling Stones nicht mehr so motiviert und beherzt bissig wie auf „Hackney Diamonds“. Diese Männer stehen voll im Saft. So ließ „Angry“, die vor einem Monat vorausgeschickte Single mit dem politisch genussvoll unkorrekten Junge-Blondine-räkelt-sich-leichtbekleidet-und-lasziv-während-Cabriofahrt-Video nicht nur Erinnerungen an das gut vierzig Jahre alte „Start Me Up“ aufkommen. Das Lied setzte auch gleich allen Zweifeln ein Ende. Keith Richards mag an Arthritis leiden, eingerostet klingt hier jedoch gar nichts. „Hackney Diamonds“, der Titel ist übrigens eine blumige Metapher für die nach Raubüberfällen im einst ruppigen und heute nach wirklich allen Regeln der Kunst gentrifizierten Ost-Londoner Stadtteil herumliegenden Autoscheiben- und Schaufensterscherben nach Raubüberfällen, klingt laut und angriffslustig, kess, frech, unwirsch und räudig.
Erst greift Paul McCartney zum Bass, dann setzt sich Elton John ans Piano
Zugleich hört man immer wieder den Schalk heraus, der den Stones wiederholt in den Nacken gehüpft sein muss. Auf „Get Close“, einer leicht an Bruce Springsteens „Glory Days“ erinnernden Rockbluesnummer mit Kumpel Elton John am Piano, lassen sie einfach mal ein Saxophon vom Stapel. Das trotzige „Whole Wide World“ („wenn du denkst, die Party ist vorbei, vergiss‘ es, sie hat gerade erst angefangen“, singt Jagger) gibt Keith gitarrentechnisch Gelegenheit, einen auf Hardrocker zu machen. Und im entspannten Country-Folk-Song „Dreamy Skies“ stöpselt sich Jagger einfach mal schön aus, will auf hundert Meilen keinen anderen Menschen sehen, sondern Hank Williams hören und bläst ein bisschen Dylan-artig auf der Mundharmonika.
Der 2021 gestorbene Charlie Watts ist noch in zwei Songs mit von der Partie
In zwei Songs – „Mess It Up“ sowie dem ruppig-wütenden „Live By The Sword“ – ist noch einmal der 2021 verstorbene Charlie Watts am Schlagzeug zu hören. Wie die Bandmitglieder auch jüngst ansprachen, hat der Tod des Freundes und Weggefährten die Überlebenden einander näher gebracht, die ganze Sinnhaftigkeit hinter dem Unternehmen The Rolling Stones noch einmal massiv erhöht.
Alt-Bassmann Bill Wyman ist mit dabei, Stevie Wonder auch
Jedenfalls nahm erst nach Charlies Ableben das lange Zeit lahmende Albumprojekt wirklich Fahrt auf, und mit dem jungen Andrew Watt holte man sich (auf Empfehlung von Paul McCartney) genau den richtigen Produzenten, „um uns in den Arsch zu treten“, wie Jagger jüngst bei der Pressekonferenz in London poetisch beschrieb. Watt, bekannt geworden als Mann hinter Hits von Post Malone und Miley Cyrus, revitalisierte jüngst schließlich auch Iggy Pop und Ozzy Osbourne. Die rein äußerlich recht agilen Stones dürften diesbezüglich ein leichter Fall gewesen sein. Und Mick Jagger ist sowieso alt und jung zugleich, er ist mehrfacher Urgroßvater und zugleich Daddy des sechsjährigen Deveraux Octavian Basil.
Jaggers Gesangsduell mit Lady Gaga ist eine atemberaubende Ghospel-Hymne
Weitere Gäste auf „Hackney Diamonds“ sind unter anderem der neue hauptamtliche Schlagzeuger Steve Jordan, Ex-Bassist Bill Wyman, der nach einer Nierentransplantation zuletzt nur sporadisch zu sehende Stevie Wonder und Lady Gaga. Mit letzterer liefert sich Jagger in dem Siebeneinhalbminüter „Sweet Sounds Of Heaven“ ein Gesangduell, das die Tassen aus dem Schrank springen lässt. Eine ganz große Gospelhymne ist ihnen da geglückt, voller Pathos und Passion. Ein Meisterwerk, das Erinnerungen an „Gimme Shelter“ aus dem Jahr 1969 aufkommen lässt. Jagger und Gaga singen dramatisch wuchtig gegen den Hunger und die Ungerechtigkeiten der Welt an, und Mick Jagger fordert dringlich ein, die Alten ruhig glauben zu lassen, dass sie noch immer jung sind.
Danach beschließt die einzige Coverversion das Album. „Rolling Stone Blues“ von Muddy Waters, entstanden anno 1950, war eines der Stücke auf den Platten, die Jagger 1961 unter dem Arm hatte, als er seinem alten Schulfreund Keith Richards auf dem Bahnhof von Dartford über den Weg lief. Ein Abschluss? Ein sich schließender Kreis? Kann schon sein, aber angesichts der jugendlich frischen Topform, in der sich die Rolling Stones auf „Hackney Diamonds“ präsentieren, können sie ruhig noch ein paar Jahrzehntchen weitermachen.