Essen. Der letzte Song der Beatles: John Lennons Stimme wurde mit Künstlicher Intelligenz gerettet. „Now And Then“: Ein nostalgischer Budenzauber.
Der „neue“ Beatles-Song „Now And Then“, der am Donnerstagnachmittag der Weltöffentlichkeit präsentiert wurde, war 45 Jahre lang in der Mache. Er basiert auf einer einfachen Demo-Tape-Aufnahme John Lennons aus den späten 70ern, und mit ihm schließt sich für die „Fab Four“ ein Kreis: Vor sechs Jahrzehnten erschien ihr Einstandsalbum „Please Please Me“, und nun soll das technisch feinaufbereitete, bislang unveröffentlichte Stück das letzte Wort in Sachen Beatles haben. Es wird „hier und da“ zudem für kontroversen Gesprächsstoff sorgen.
Für manche waren die Beatles die am meisten überbewertete Band aller Zeiten, andere betrachten sie auf ewig als Heiligen Gral der Popmusik. „Wir waren eine großartige kleine Rock’n’Roll-Band, nicht mehr und nicht weniger“, kommentiert Paul McCartney das Quartett, mit dem er innerhalb von acht Jahren auf dreizehn Alben Musikgeschichte schrieb, in der offiziellen „Anthology“-Dokumentation. Seine artikulierte Bescheidenheit in allen Ehren: Der nunmehr 81-Jährige weiß freilich sehr wohl, welches Erbe er, John Lennon, Ringo Starr und George Harrison als Kollektiv hinterlassen haben. Ihre 220 Originalbänder und Mastertapes aus den 1960er-Jahren werden geschützt und behütet wie die englischen Kronjuwelen.
„Now And Then“, der anscheinend „letzte Song“ der Beatles, hat vier Minuten Spielzeit
Heute kommt nun ein weiterer tatsächlicher oder vermeintlicher Diamant hinzu: „Now And Then“, der anscheinend „letzte Song“ der Beatles. Verständlicherweise gab es den vorab nur unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen zu hören. Die Rasanz des Up- und Download- und Streaming-Zeitalters hätte den Coup der Veröffentlichung des Stücks vermutlich vereitelt. Mit gut vier Minuten Spielzeit liegt „Now And Then“ längenmäßig gut zwischen „Her Majesty“, dem kürzesten, und „Revolution 9“, dem dauerintensivsten Song der vormaligen „Pilzköpfe“.
Aber hält die Nummer musikalisch der Spannung und den Erwartungen stand, die seit seiner Ankündigung weltweit aufkamen? Paul McCartney zählt den Takt ein: „One, two“, die Drei und die Vier lässt er leger aus. Einfache Akustikgitarrenakkorde, die von prägnant in Szene gesetztem Piano aufgegriffen werden, führen direkt zu Lennons erster Gesangsstrophe. Bedeutungsschwer sind seine Zeilen nicht. Weder appelliert er darin ans Träumen von Brüderlichkeit noch an Friedenschancen.
Aus der Stimme von John Lennon spricht Melancholie, im Refrain fleht und vermisst er
Melancholie wird jedoch greifbar, die schemenhaft an den hinteren Teil des „The End“-Stücks aus dem „Abbey Road“-Album erinnert. Sicher lässt sich nur darüber spekulieren, ob Lennon während der Aufnahme Gedanken an Vergänglichkeit und Einsamkeit beschäftigten. Im Refrain, den McCartney und Ringo Starr polstern, fleht und vermisst er jedenfalls ausdrücklich. Ob es sich bei den Angesprochenen um Yoko Ono oder um seine vormaligen Beatles-Kollegen handelt, bleibt offen.
Viel Material zur Fertigstellung des Songs enthielt das Demo nicht. Zwei, drei Strophen, ein wiederholter Vers, das war’s. Die beiden übrig gebliebenen Beatles setzen ein Slide-Gitarren-Solo in die Mitte, inspiriert und mittels vorhandener, von ihm eingespielter Spuren unterstützt von George Harrison. Gegen Ende des Songs drehen bereits zuvor dezent wahrnehmbare Streicher ein paar Ehrenrunden. Dann ist der nostalgische Budenzauber vorbei.
Eigentlich sollte „Now And Then“ schon 1995 erscheinen
Eigentlich sollte „Now And Then“ schon 1995 erscheinen, als Paul, Ringo und der damals noch lebende George bereits zwei Lennon-Demos für ihre „Anthology“-CD-Reihe vervollständigten. Der Gesang des Rebellen der 60er-Jahre ließ sich seinerzeit jedoch nicht vom Piano der Monospur-Musikkassettenaufnahme trennen. Als der Regisseur Peter Jackson und sein Team jedoch das „De-Mixing“-Verfahren für die vielstündige Beatles-Doku „Get Back“ zu Rate zogen, bestand neue Hoffnung fürs tontechnische Restaurieren von „Now And Then“. Eine lernfähige digitale Bandmaschine, „MAL“ genannt, ist imstande, bislang als untrennbar gegoltene Einzelteile von Tonaufnahmen feinsäuberlich zu separieren. Es handelt sich dabei um ein KI-unterstütztes System. Die Plattenfirma der Beatles wird ob der KI-Nutzung nicht müde zu betonen, dass die Musik des Songs allerdings komplett von Menschenhand eingespielt, arrangiert und produziert worden ist.
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Die Bewertung des Song-Charakters liegt indes selbstverständlich im Auge des Betrachters. Die einen werden das finale Beatles-Stück vermutlich zum musikgewordenen Rentenbescheid der „Fab Four“ erklären. Anderen wird die letzte virtuelle Zusammenkunft der glorreichen Vier Freudentränen in die Augen treiben. Drei berühmte McCartney-Worte fassen das neuerliche Beatles-Aufbäumen treffsicher zusammen: Lasst es geschehen, „Let It Be“.