München. Max Mannheimer ist einer der letzten noch lebenden Zeugen des Holocaust. Die Eltern, drei Geschwister und Mannheimers Ehefrau wurden im Konzentrationslager ermordet. Doch ihm geht es heute um Versöhnung, nicht um Vergeltung.
Vor 68 Jahren – am 27. Januar 1945 – wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Der Wahlmünchner Max Mannheimer, Jahrgang 1920, ist einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen, die das düsterste Kapitel der deutschen Geschichte von der Machtergreifung der Nazis vor 80 Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs am eigenen Leibe erfahren haben.
Als Jude wird er 1943 mit seiner Familie vom Sudetenland nach Auschwitz deportiert. Die Eltern, drei Geschwister und Mannheimers Ehefrau werden ermordet. Sein jüngerer Bruder und er überleben weitere Deportationen. Ein Gespräch mit dem Überlebenden Max Mannheimer über seine Erinnerungen, die er in der berührenden Biografie „Drei Leben“ festgehalten hat.
1943 nach Auschwitz-Birkenau gebracht
Herr Mannheimer, 1943 wurden Sie gemeinsam mit Ihrer Familie nach Auschwitz-Birkenau gebracht. Wussten Sie zu dem Zeitpunkt, was Hitler mit Juden in Deutschland machte?
Max Mannheimer: Es hieß, Juden kämen zum Arbeitseinsatz in den Osten. Da das Naziregime darauf verzichtete, Konzentrationslager in Deutschland zu errichten, konnte bei der Zivilbevölkerung lange der „Arbeitseinsatz im Osten“ aufrechterhalten werden. Wirklich alarmiert waren auch wir erst, als mein Bruder Ernst in Ungarisch Brod von der Gestapo verhaftet wurde. Dies öffnete uns endgültig die Augen und wir schlossen eine Deportation nicht mehr aus. Wir wussten bereits, dass Hitler Deutschland „judenfrei“ machen wollte und hielten den Arbeitseinsatz Ost mehr und mehr für Realität. Auf dem Transport nach Auschwitz beschlichen mich erhebliche Zweifel und mir wurde klar, dass mit uns Juden etwas Schlimmes geschehen würde. Ich hatte zum ersten Mal große Angst.
Die Verantwortung für Ihre jüngeren Brüder Edgar und Ernst gab Ihnen im Konzentrationslager Halt. Aber was genau war Ihre Überlebensstrategie in Auschwitz?
Max Mannheimer: Ohne meinen Bruder Edgar hätte ich die Zeit in den Lagern nicht überstanden. Eigentlich wollte ich unmittelbar nach dem ersten Morgenappell in Auschwitz, nachdem die erste Selektion stattgefunden hatte, in die elektrischen Drähte laufen, die das Lager einzäunten. Denn ich erkannte, dass wir in ein Inferno gekommen waren und flüsterte meinem Bruder zu: „Du wirst sehen, wir werden Schaufeln bekommen und unser eigenes Grab schaufeln. Am besten wäre es, ich ginge zu den Drähten hin, berühre sie und aus.“ Da fragte er, der Siebzehnjährige, mich, den Dreiundzwanzigjährigen: „Willst du mich alleine lassen?“ Diese eine Frage hatte zwei Effekte: Erstens habe ich mich sehr geschämt, dass ich meine beiden jüngeren Brüder verlassen wollte; und zweitens hat sich meine Einstellung um 180 Grad geändert. Ich sagte mir, dass ich als Ältester meine jüngeren Brüder beschützen muss. Dass der jüngste Bruder dann der stärkere war, steht auf einem anderen Blatt. Edgar machte mir mit seiner positiven Einstellung immer wieder Mut. Er war überzeugt, dass wir überleben würden.
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Nach der Befreiung kamen die Selbstvorwürfe
Ihre Eltern, Ihre Frau Eva, Ihre Schwester und Ihre Schwägerin wurden im Februar 1943 in Birkenau vergast. Inwieweit fühlten Sie sich damals schuldig, weil Sie selbst nicht selektiert wurden?
Max Mannheimer: Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass meine Angehörigen nicht mehr lebten. Die Selbstvorwürfe, überlebt zu haben, kamen erst nach meiner Befreiung.
Später mussten Sie mit ansehen, wie Ihr Bruder Ernst selektiert wurde. War das der Moment, in dem Sie Ihren Glauben an Gott verloren haben?
Max Mannheimer: Meinen Glauben hatte ich schon vorher verloren: Wie kann es einen Gott geben, wenn er dieses Morden zulässt? Trotzdem betete ich abends nach jüdischer Tradition das Schma Jisrael.
Wie oft sind Sie in Auschwitz der Selektion entgangen?
Max Mannheimer: Ungefähr zehnmal.
Die Aufseher - unmenschlich, grausam, brutal
Wie war die Mentalität der Lageraufseher?
Max Mannheimer: Unmenschlich, grausam, brutal, sadistisch. Das Paradoxe war, es waren „normale“ Männer, die nach 1945 wieder anständige Deutsche waren. Während die SS-Aufseher uns bei der Arbeit bewachten, bedrohten sie uns, es gab Knüppelschläge, sie hetzten Hunde auf die Häftlinge. Wenn jemand während der Arbeit zusammenbrach, wurde er mit Kolbenschlägen wieder angetrieben oder erschossen.
Warum Mannheimer nach dem Krieg in Deutschland blieb
1944 wurden Sie in das ehemalige Warschauer Ghetto verlegt. Dort trafen Sie auf einen tief religiösen SS-Mann mit dem Namen Weber. Gab es auch den guten Nazi?
Max Mannheimer: Das war die absolute Ausnahme. Zu dieser Ausnahme gehörte ein 18-jähriger Blockführer, der uns immer ganz besonders anschrie. Einmal befahl er mir in seinem lauten und schneidenden Ton, zu ihm zu kommen. Leise sagte er zu mir: „Sagen Sie Ihren Kameraden, dass ich nicht freiwillig zur SS gegangen bin. Dass ich mit jüdischen Kindern in Berlin aufgewachsen und mit Ihnen befreundet gewesen bin. Ich habe noch nie einen Häftling geschlagen und werde es auch nicht tun. Wenn ich so brülle, dann tue ich das, damit man mich nicht für unfähig hält und meines Postens enthebt.“ Diese Aussage war wie ein Geschenk für mich, größer als jede zusätzliche Brotration. Weil er in uns Menschen sah und er uns nicht demütigen wollte, wie die meisten anderen.
Wieso klagen Sie in Ihrem Buch niemanden an?
Max Mannheimer: Weil ich weiß, wie verführbar Menschen sind. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wäre ich nicht als Jude geboren worden. Vielleicht wäre ich als Befehlsempfänger oder als Schweigender mitverantwortlich für das Leid anderer Menschen geworden. Mir ging und geht es nicht um Rache und Vergeltung, sondern um Verständigung und Aussöhnung.
Zur Person1946 heirateten Sie Elfriede Eiselt und wurden Vater einer Tochter. Mit welchen Gefühlen sind Sie mit Ihrer Familie nach Deutschland übergesiedelt?
Max Mannheimer: Ich befand mich in einem inneren Zwiespalt, die Nazis hatten sechs meiner engsten Angehörigen ermordet. Aber meine Frau versicherte mir, dass Deutschland ausgezeichnete Chancen habe, eine Demokratie zu werden und ich glaubte ihr. Und ich erinnerte mich, dass es erst deutsche Sozialdemokraten und Gewerkschafter waren, die verhaftet wurden. Und dass es Deutsche gab, die Juden retteten.
In München fanden Sie eine Stelle beim Zentralkomitee der befreiten Juden. Dort mussten Sie eidesstattliche Erklärungen von Überlebenden protokollieren. Waren Sie auf diese Berichte vorbereitet?
Max Mannheimer: Ich hatte ja Ähnliches erlebt. Die erste Zeit belasteten mich die Interviews weniger als ich erwartet hatte. Im Gegenteil – ich konnte durch die Aussagen der Opfer dazu beitragen, die Täter ihrer Strafe zuzuführen. Doch die Trauer um meine ermordeten Angehörigen war allgegenwärtig.
Wie oft haben Sie nach dem Krieg Antisemitismus gespürt?
Max Mannheimer: Das kam öfter vor. 1954 probierte ich in der Kabine eines Münchner Konfektionshauses ein Sakko an. Als ich nach verschiedenen Größen verlangte, hörte ich, wie der Verkäufer sich bei seinem Kollegen über den „Saujuden“ beschwerte. Die Firma wollte den Verkäufer entlassen, aber ich lehnte ab. Es gab, vor allem als meine Frau Münchner Stadträtin der SPD war, anonyme Droh- und Schmähschreiben.
Viele Nazis gelangten nach dem Krieg wieder in gehobene Positionen. Wie konnten Sie das ertragen?
Max Mannheimer: Es ging den Deutschen nicht um Reue, sie verleugneten ihre Täter- bzw. Mittäterschaft. Den Verzicht auf klare Grenzen gegenüber der NS-Vergangenheit empfand ich als große Belastung für das Selbstverständnis, die politische Moral und die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik. Vielen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern gelang es nach 1945, sich einen „Persilschein“ zu beschaffen und damit bald wieder in gehobene Ämter zu kommen.
Haben Sie alles in Ihrem Buch aufgeschrieben?
Max Mannheimer: Nicht alle Gewalttaten, die ich erleben oder mit ansehen musste – öffentliche Folterungen und Hinrichtungen zum Beispiel – habe ich aufgeschrieben. Meine Erfahrungen in allen Details darzustellen, wäre zu schmerzhaft gewesen. Auch für meine Kinder.