Dortmund. Am 1. April 1991 wurde Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder erschossen. Der Mord gilt als das letzte RAF-Attentat – und ist noch ungeklärt.

22 Bjs 62/91-2. Dieses Aktenzeichen steht für ein Verfahren, das die Bundesanwaltschaft seit drei Jahrzehnten führt. Es richtet sich „gegen Unbekannt“. Immer noch. Der Mord am Manager Detlev Karsten Rohwedder in Düsseldorf, damals Chef der Treuhand, jährt sich am 1. April zum 30. Mal. Er liegt im Dunkeln.

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Es gibt keine Beweise, wenige Indizien, keine Namen möglicher Täter. Oder doch? Da sind zwei ausgefallene Haare, eine Waffe und vielleicht ein älteres, vagabundierendes Geldräuber-Trio. Hilft dieser Mix irgendwann zur Klärung des mysteriösen Falles?

Mord an Ostern: Rohwedder stirbt 1991

Ostern 1991. Detlev Karsten Rohwedder hat eine heftige Woche hinter sich. Am Alexanderplatz in Berlin steht sein Schreibtisch. Der Wirtschaftsführer, vorher Sanierer des Dortmunder Hoesch-Stahlkonzerns und Sozialdemokrat, verantwortet seit neun Monaten das schwierigste Stück im deutschen Einheitsprozess: Die Privatisierung von 8000 Staatsbetrieben der Ex-DDR - oder, falls Käufer ausbleiben, ihre „Abwicklung“.

Ein undankbarer Job. Wer ihn macht, entscheidet über das Schicksal von vier Millionen Arbeitnehmern. Der Widerstand ist groß, die „Luft brennt“, und das im Wortsinn: Noch am Karfreitag des Jahres hat ein Anschlag die Treuhand-Filiale am Prenzlauer Berg in Flammen gesetzt.

Mord an Rohwedder: Die Kugel durchschlug die Luftröhre

Ruhigere Wochenenden bleiben dem Manager nur in der Familie. Mit seiner Frau Hergard verbringt Rohwedder sie zu Hause in Düsseldorf am Oberkasseler Rheinufer. Am Abend des 1. April, dem Ostersonntag, war das Ehepaar bei Freunden in Essen zu Gast. Zurück in Düsseldorf geht der 58-jährige Rohwedder im Schlafanzug in sein Arbeitszimmer in den ersten Stock der Villa am Kaiser-Friedrich-Ring. Direkt gegenüber liegt die quirlige Altstadt.

Um 23.30 Uhr will er das Licht ausmachen, als ihn von hinten ein Schuss trifft. Eine Kugel ist durch die Fensterscheibe geschlagen und zerfetzt den fünften Brustwirbel, die Aorta und Luft- und Speiseröhre. Er schreit. Dann bricht er tot zusammen. Ein zweites Projektil trifft Hergard Rohwedder (57) in den Arm. Ein drittes Geschoss bleibt im Buchregal stecken.

Es ist der 33. gezielte Mordanschlag, den die Terroristen der Rote Armee Fraktion RAF verübt haben. Es wird ihr letzter sein. Aber das wird sich 1998 herausstellen, als die RAF mit linksextremem Pathos ihr Ende erklärt: „Die Revolution sagt: Ich war. Ich bin. Ich werde sein“.

Detlev Rohwedder in seinem Düsseldorfer Haus.
Detlev Rohwedder in seinem Düsseldorfer Haus. © imago | imago

In Düsseldorf wird die Ringfahndung ausgelöst. Polizei und Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) sichern den Tatort. Die drei Schüsse wurden aus 63 Meter Entfernung aus einem Schrebergarten abgegeben, der zur Rheinfront liegt. Die Ermittler finden dort Patronenhülsen, einen Gartenstuhl, ein Fernglas, ein blaues Frotteehandtuch, Zigarettenkippen und ein Bekennerschreiben: „Zusammen kämpfen und wir werden zusammen siegen! Rote Armee Fraktion. Kommando Ulrich Wessel“.

Die Ermittlung im Rohwedder-Mord: Kenntnisse und Spuren

Was die Ermittler wissen: Das Schreiben ist RAF-authentisch. Was sie nicht wissen: Wer im Schrebergarten geschossen hat. Die frustrierende Erfahrung machen sie nicht zum ersten Mal. Seit 1984 tötet eine völlig unbekannte „3. RAF-Generation“ aus dem Untergrund. Acht Mordopfer und 20 Gewaltverbrechen gehen bis zu diesem Zeitpunkt auf ihr Konto. Zuletzt haben sie Siemens-Manager Karl Heinz Beckurts und seinen Fahrer Eckhard Groppler, den Deutsche Bank-Chef Alfred Herrhausen und den Diplomaten Gero von Braunmühl umgebracht. Jetzt Detlev Karsten Rohwedder. Deutschland steht unter Schockstarre.

Die Spuren. Die Kriminaltechnik findet am Rheinufer neben den Kippen eines Rauchers der Blutgruppe A acht Haare. Sieben sind für jede Untersuchung unbrauchbar. Ein achtes, ausgefallenes, stammt vom Handtuch, in das die Tatwaffe gewickelt war. Auch für dieses gilt: Noch können die DNA-Analytiker Haare nur dann genetisch einer Person zuordnen, wenn sie ausgerissen wurden, nicht aber, wenn sie ausgefallen sind. Die Mordwaffe dagegen ist über die Patronenhülsen zu identifizieren. Es ist ein vollautomatisches Gewehr vom Typ „FN“-FAL, eine Nato-Waffe.

Mord an Rohwedder: Anschlag kam nicht aus dem Nichts

Die Überraschung: Die Mörder haben so eine Waffe erst vor Kurzem genutzt. Am 2. April schreibt das Bundeskriminalamt einen Vermerk: „Diese Spuren sind identisch mit Spuren auf Patronenhülsen vom Tatort Königswinter (Anschlag auf die US-Botschaft in Bonn-Bad-Godesberg am 13.02.1991)“. Sechs Wochen zuvor, der Irak-Krieg tobte, hatten Unbekannte 250 mal über den Rhein gefeuert und die Botschaftswand an 60 Stellen gelöchert. Wenig Sachschaden. Keine Verletzten. „US-Nato raus dem Nahen Osten“, stand im Bekennerbrief der RAF. Fahnder stellten im Fluchtwagen, einem VW Passat, ein Haar einer Beifahrerin sicher. Die DNA wird - viel später - entschlüsselt.

Klar ist jetzt: Die Anschläge könnten nicht nur zeitlich eng zusammenhängen. Die Warnungen. Der Mordanschlag auf Detlev Karsten Rohwedder kam nicht aus dem Nichts. Sicherheitsbehörden waren gewarnt, auch Rohwedder selbst. Im Februar hatte der Bonner Staatssekretär Hans Neusel dem Treuhand-Manager am Rand einer Wirtschaftstagung gesagt, sein Leben sei in Gefahr. Das BKA hatte eine Gefährdungs-Analyse geschrieben. Sie basierte auf einer RAF-Liste mit 32 menschlichen Zielen. Rohwedders Name stand darauf. Unter R. Zudem hatten die Ermittler vor Ostern Haftzellen in Köln-Ossendorf durchsucht und bei vier einsitzenden RAF-Terroristinnen geheime Unterlagen gefunden. Ein Papier der inhaftierten Eva Haule deutete auf eine unmittelbar bevorstehende „Aktion“ hin.

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Rohwedder-Mord: Schutzlücken und Spitzelverdacht

Die Schutzlücken. Gab es keinen Personenschutz, keine ausreichende Sicherung der Villa am Kaiser-Friedrich-Ring? Die Fragen führen nach der Tat schnell zum Streit zwischen der Familie des Opfers und der NRW-Landesregierung, die für die Sicherung zuständig war. Sie hatte den Manager in die Schutzkategorie II eingeordnet, zu der im größten Bundesland etwa 200 geschützte Personen zählten und die voraussetzt, dass „ein Anschlag nicht auszuschließen ist“. Die Polizei fährt hier Streife, wenn sie es für angemessen hält. Die Familie Rohwedder wirft der Regierung vor, die schärfere Stufe I („von einem Anschlag ist auszugehen“) mit einer ständigen Bewachung als Folge wäre richtiger gewesen. Heikel auch: Das Arbeitszimmer, in dem Rohwedder erschossen wurde, war anders als die Parterre nicht durch ein schusssicheres Glas geschützt. Die Landesregierung verteidigt sich: Sie habe darauf gedrängt, auch die Fenster in der oberen Etage zu sichern. Die Rohwedders seien dem Drängen nicht gefolgt. Bis heute ist unklar, ob das so stimmt.

Der Spitzel-Verdacht. Woher wussten die Terroristen, dass das Arbeitszimmer kein kugelsicheres Glas hatte? Wie hatten sie Rohwedders Familienleben ausspähen können? Wer war das verdächtige Pärchen, das Hergard Rohwedder in den Tagen vor dem Mord in der Nachbarschaft wahrnahm? Auch sagt die Ehefrau: „Es wurde nachts angerufen, keiner meldete sich“. Die Ermittler haben auf all das keine plausible Antwort. Stattdessen wird ein ungeheurer Verdacht bestärkt: Horst Herold, wegen seiner Erfolge bekannter Präsident des BKA von 1971 bis 1981, hat ihn kurz nach dem Anschlag auf Alfred Herrhausen in der Süddeutschen Zeitung geäußert. Die RAF könnte einen Spitzel im Sicherheitsapparat haben. Zu viele vertrauliche Informationen hätten die Täter in den Fällen Schleyer, Beckurts und Herrhausen gehabt. Herold stellt dazu detaillierte Fragen ein Jahr vor dem Rohwedder-Mord und vermutet: „Da sitzt irgendein Konfident am Apparat, hebt den Hörer ab und sagt: Jetzt fährt er los!“.

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Rohwedder-Mord: Das sind die möglichen RAF-Täter

Die Haar-Fährte. Mai 2001. Der RAF-Terror ist inzwischen Geschichte. Aber die Morde sind nicht ansatzweise geklärt, auch nicht der an Rohwedder. Die Tatwaffe bleibt verschwunden, obwohl nach Funden in einer Garage in Brüssel zeitweise Hoffnung aufgekommen war. Da melden die Labors des Bundeskriminalamtes einen Durchbruch. Auch ausgefallene Haare können jetzt der DNA von Personen zugeordnet werden. Das Haar im Handtuch gehört zu Wolfgang Grams, der der 3. RAF-Generation zugerechnet wird. Er starb bei einem Polizeieinsatz 1993 in Bad Kleinen durch Selbstmord. Noch ist das BKA vorsichtig: Grams müsse nicht beim Attentat in Düsseldorf dabei gewesen sein. Es sei auch denkbar, dass Attentäter ein Handtuch zum Tatort mitgenommen hätten, mit dem Grams vorher in Berührung gekommen sei. Aber mit dem Verdacht gegen Grams geht rasch ein zweiter einher. Birgit Hogefeld, seine Mit-Terroristin und Lebensgefährtin, könnte am Rheinufer mit geschossen oder zumindest mit ausgespäht haben. Das stellt eine Vermutung dar. Aber jetzt sind erstmals zwei Namen im Gespräch.

Die Geldräuber. Es könnten, am Ende, noch drei weitere Verdächtige geben. Das Haar aus dem VW Passat in Königswinter, wo sechs Wochen vor dem Rohwedder-Attentat Schüsse gegen die US-Botschaft abgefeuert wurden, ist das von Daniela Klette. Klette war an mehreren, nicht tödlichen RAF-Anschlägen beteiligt. Sie steht nicht unter Mordverdacht, aber sie hatte nachweislich Kontakt zu Hogefeld und Grams. Und sie könnte über enormes Wissen verfügen auch über den Terroranschlag von Düsseldorf. Die Waffe in Königswinter und Düsseldorf war schließlich dieselbe. Befragen kann sie dazu kein Ermittler. Klette (62) gehört mit Ernst Volker Staub (66) und Burkhard Garweg (52) zum Trio, das zwischen 1999 in Duisburg-Rheinhausen und 2016 in Cremlingen mehr als ein Dutzend Raubüberfälle verübt hat. Sie werden die „RAF-Rentner“ genannt. Doch niemand weiß, wo sie, zuletzt mit 600 000 Euro Beute, abgetaucht sind.

Der Mord an Detlev Karsten Rohwedder, den Ex-Finanzminister Waigel den „Märtyrer der deutschen Einheit“ nannte, bleibt - vorerst - ungelöst.

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