Essen/Köln. NRW Anfang der 70er-Jahre: Palästinenser und deutsche Rechtsextreme planten den großen Cop. Nur durch Zufall misslangen ihnen drei Geiselnahmen.
Horst Katzor war Oberbürgermeister von Essen, Fritz Claus Stadtoberhaupt in Bochum, Josef Kardinal Höffner stand an der Spitze des Erzbistums Köln. Drei bekannte Persönlichkeiten der 70er-Jahre. Sie eint etwas, was kaum in Archiven und Geschichtsbüchern zu finden ist. Aussagen von Beteiligten und Akten bei Justiz und Polizei belegen: Die beiden Kommunalpolitiker und der Kirchenmann sowie Personen aus ihrer unmittelbaren Umgebung waren damals wohl ins Visier arabischer Terroristen geraten. Sie entgingen im Herbst und Winter 1972/1973 nur knapp einer Geiselnahme.
Kampforganisation und Rechtsextremisten planten großen Cop in NRW
Erdacht und vorbereitet hatten dies die palästinensische Befreiungsfront El Fatah und ihre Kampforganisation „Schwarzer September“, die dabei mit Rechtsextremisten aus dem Ruhrgebiet zusammen arbeiteten. Die Fedayin und ihre Helfer wollten in die Rathäuser von Essen und Bochum eindringen und Geiseln nehmen. Im Kölner Dom sollte dies zum Zeitpunkt der Heiligabend-Messe 1972 passieren.
Der Plan entstand in einem Beiruter Hotel nur wenige Wochen nach dem blutigen Ausgang des Münchner Olympia-Attentats am 6. September, bei dem neben elf gekidnappten israelischen Sportlern und einem deutschen Polizisten auch fünf der Terroristen auf dem Flugplatz von Fürstenfeldbruck umgekommen waren. Die in NRW geplanten Geiselnahmen hatten handfeste Ziele: Die drei überlebenden und noch in deutscher Haft sitzenden palästinensischen Olympia-Terroristen sollten freigepresst werden. Außerdem trieb die Terror-Planer pure Rache. „Er empfand starke Rachegefühle gegenüber den deutschen Behörden, denen er vorwarf, mit den Israelis ein verräterisches Spiel gespielt zu haben“, erinnerte sich der damals beteiligte Rechtsextremist Willi Pohl aus Dortmund an Wutanfälle des palästinensischen Top-Terroristen Abu Iyad.
Entführung aus dem Kölner Dom geplant
Deutsche Sicherheitsbehörden hielten ihre Erkenntnisse über die Geisel-Pläne wie auch die Verwicklung von deutschen Rechtsextremisten über vier Jahrzehnte zurück. Erst 2012 erwähnte sie der „Spiegel“ in einer Titelgeschichte mit wenigen Sätzen. Heute werden sie in einer offiziellen Darstellung des Olympia-Attentats durch das Bundespresseamt bestätigt: „Pohl … plante im Auftrag von Abu Iyad terroristische Aktionen in Westdeutschland, die zur Freipressung der überlebenden Attentäter von München dienen sollten. Dazu zählten Geiselnahmen im Kölner Dom und in Rathäusern deutscher Großstädte.“
Ein Haftbefehl der Münchner Justiz gegen Pohl aus dem Juli 1973 wird konkreter: „Beim Beschuldigten wurden Operationspläne sichergestellt, die auf beabsichtigte Entführungen nicht näher bezeichneter Persönlichkeiten in Essen, Bochum und Köln hindeuten“. Die Pläne seien in zwei Phasen unterteilt gewesen: Zunächst sei es in den beschlagnahmten Unterlagen um Auswahl und Unterbringung der Geiseln gegangen, die Beschaffung von Waffen und die Kosten der Operation. In der zweiten Phase sei ein Treffen am 1. November vorgesehen gewesen, wohl als letzte Absprache: Rom, Treffpunkt „Hauptbahnhof Café von 12 bis 13 Uhr“.
Täter räumte Plan von Geiselnahme ein
Pohl, der wie sein Komplize Wolfgang Abramowski schon an der Vorbereitung des Olympia-Attentats seit Juli 1972 beteiligt war, beschreibt Details aus den dramatischen Tagen in seinem Buch „Geblendet“, das 2020 in einer Neuauflage unter dem Pseudonym Willi Voss erschien. Pohl räumt darin zum Beispiel zur Kölner Geiselnahme ein, man habe „an den Festtagen die Prominenz, die dort immer vorhanden ist“ gefangen nehmen wollen. Codewort der Aktion: „Moschee“. Während der Palästinenserführer Abu Iyad gegen die Dom-Geiselnahme Bedenken gehabt hätte, („Die Gefahr einer Panik unter den tausenden Besuchern ließe sich nur schwer beherrschen“), sei die Besetzung der Rathäuser bei diesem „sofort auf Anklang“ gestoßen. Pohl weiter: „Wir gingen im Planspiel davon aus, dass zunächst einmal in der Zeit zwischen November und Dezember verschiedene Rathäuser besetzt werden sollten, um dann Heiligabend 1972 die spektakuläre Operation ‘Moschee’ anlaufen zu lassen“. Doch alles sollte beim Planspiel bleiben.
Auch interessant
Eine Polizeiaktion in München-Solln kam dazwischen, dort vorgenommene Festnahmen konnten die geplanten Geiselnahmen in Köln, Essen und Bochum im letzten Moment verhindern. Ein glücklicher Zufall? Vielleicht. Die Festnahme des Duos Pohl/Abramowski in der Münchner Wohnung des früheren SS-Offiziers Charles Jochheim am Abend des 27. Oktober 1972 geht auf einen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft Düsseldorf gegen eine „Nationalsozialistische Kampfgruppe Großdeutschland“ wegen illegalen Waffenbesitzes zurück. Die Staatsanwaltschaft und das Landeskriminalamt NRW vermuteten damals ein gefährliches Arsenal bei Jochheim. Pohl und Abramowski, die beiden deutschen Komplizen des „Schwarzen September“, die Jochheim nach einer Waffen-Beschaffungsaktion überraschend besucht haben wollen, gerieten bei der Durchsuchung offenbar zum Beifang der Ermittler.
Ermittler des LKA fanden in Jochheims Wohnung bei Pohl und Abramowski nicht nur drei Kalaschnikow-Maschinenkarabiner, vier Handgranaten belgischer Fertigung, eine russische Armeepistole „Tokarev“ und vier weitere Schusswaffen, deren Seriennummern genau zu den Waffen passten, die beim Anschlag auf die Olympischen Spiele eineinhalb Monate zuvor zum Einsatz gekommen waren. Sie beschlagnahmten auch Munition, Bargeld und eben jene Dokumente, in denen die vorgesehenen Geiselnahmen in Köln, Essen und Bochum detailliert erläutert waren.
Verurteilt – und nach vier Tagen entlassen
Am Ende hielt die Polizei auch den Beleg in der Hand, dass arabische Freischärler nicht nur mit Linksextremisten zusammen arbeiteten, die sie in ihren Lagern im Nahen Osten ausbildeten. Sondern eben auch mit deutschen Neonazis.. Damit bestätigte sich eine von anderen Sicherheitsbehörden nie ernst genommene Warnung der Polizei Dortmund vom 12. Juli 1972 vor „vermutlich konspirativer Tätigkeit palästinensischer Terroristen“ in Deutschland und ihren Zuarbeitern.
El Fatah reagierte schnell auf die Ereignisse in Solln. Drei Tage nach der Festnahme ihrer deutschen Helfer am 27. Oktober kaperten die Palästinenser Lufthansa-Flug 615 von Damaskus nach Frankfurt auf dem Flughafen von Nikosia und pressten damit die drei in deutscher Haft befindlichen arabischen Olympia-Terroristen frei.
Willi Pohl wurde 1974 trotz der bei ihm sichergestellten Attentatspläne im Rheinland und im Ruhrgebiet allein wegen unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt. Er erhielt eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten. Nach vier Tagen Haft kam er frei und setzte sich in den Nahen Osten ab. Es halten sich Spekulationen, das milde Urteil und die frühe Freilassung des Mannes seien Teil eines Deals zwischen der Bundesregierung und der El Fatah gewesen, die der damaligen sozialliberalen Bundesregierung dafür zugesichert habe, keine weiteren Angriffe auf deutschem Boden zu starten.
Pohl arbeitete zunächst weiter für die Palästinenser. 1977 wechselte er die Seiten und spionierte als Agent „Ganymed“ für den US-Geheimdienst CIA. Er sagte sich vom Terrorismus los. Nach Rückkehr nach Deutschland betätigte er sich als Schriftsteller und später als Drehbuchautor mehrerer „Tatort“-Filme der ARD.
Weitere Texte aus dem Ressort Wochenende finden Sie hier:
- Psychologie: Warum sich Mädchen komplett überfordert fühlen
- Migration: Wie ein pensionierter Polizist im Problemviertel aufräumt
- Essener Roma-Familie über Klischee: „Wir sind keine Bettler“
- Familie: Hilfe, mein Kind beißt, schlägt, tritt andere!
- Generation Pause: „Man genießt, nicht den Druck zu haben“