Unna/Duisburg. Neue Erkenntnisse zeigen: Zwei Männer aus Duisburg und Unna trugen entscheidend dazu bei, den NS-Massenmörder in Argentinien aufzuspüren.

Historiker decken Geheimnisse der Weltgeschichte gerne in staubigen Archiven auf, Archäologen meist bei aufwendigen Grabungen. Aber kann so etwas bei einem Kaffeekränzchen passieren? Sigrid Wobst erinnert sich. Wie ihre Familie im Jahr 2013 ihre Mutter Rosemarie Pohl in Soest besuchte. Wie die Runde zum Familienalbumgucken überging. Wie der Vetter überrascht auf Urlaubsbilder von Vater und Mutter stieß, auf Fotos von Meer, Wüste und der Erinnerungsstätte Yad Vashem, und ungläubig fragte: „Ihr wart in Israel?“ Mutter Rosemarie nickte. Das alles sei 1962 gewesen, fast vier Wochen. Dem Dirigenten Celibidache habe man gelauscht, den Maler Marc Chagall getroffen und Premierminister Ben Gurion auf einer Ehrentribüne gesehen. Wie sie denn solch eine teure Reise damals hätten bezahlen können, hakte die Familie nach. „Wir waren Staatsgäste“, sagte die 92-jährige Dame, formal eingeladen von der Familie des Historikers Eli Rothschild.

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Sigrid Wobst blättert in Aufzeichnungen ihrer Mutter.
Sigrid Wobst blättert in Aufzeichnungen ihrer Mutter. © Handout | Handout

Dann lüftete Rosemarie Pohl ein langbewahrtes Geheimnis, eine zeithistorische Sensation: Ein Dankeschön des Staates Israel sei die Einladung gewesen, für die „wichtige Rolle“, die Giselher Pohl, ihr verstorbener Mann, bei der Ergreifung von Adolf Eichmann gespielt habe.

Sigrid Wobst ist eine bekannte Künstlerin, engagiert sich für Frauenrechte. Aus Göttingen stammend, lebte sie lange in Unna, später in den USA und jetzt im westfälischen Soest. In diesem Moment 2013, als ihre Mutter von der Israel-Reise erzählte, sei sie „völlig sprachlos“ gewesen, sagt sie.

Der Massenmörder – Adolf Eichmann, geboren 1906 in Solingen. Aufgewachsen in Österreich. Abgebrochene Mechanikerlehre. Der Eintritt in die SS nach Hitlers Machtergreifung, die Karriere dort. Von 1941 bis 1945 leitete er das „Judenreferat“ des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin. Eichmann war es, der die „Endlösung“ der Nazis plante, der den Transport von sechs Millionen Juden in die Gaskammern steuerte, den Holocaust organisierte. Nach Kriegsende aus alliierter Gefangenschaft verschwunden, rankten sich um seine Flucht die wildesten Gerüchte: Verbarg er sich in Kuwait? Syrien? Kairo? Australien? Oder doch, so hieß es zwischendurch, in Südamerika?

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Adolf Eichmann in Argentinien.
Adolf Eichmann in Argentinien. © picture alliance / akg images /

Am 11. Mai 1960 ein Paukenschlag: Ein Kommando des israelischen Geheimdienstes Mossad entführt den früheren SS-Obersturmbannführer in einer Vorstadt von Buenos Aires und bringt ihn nach Jerusalem. Die Israelis klagen ihn wegen des Menschheitsverbrechens an und stellen ihn 1961 vor Gericht. Wer enttarnte das Versteck des vielleicht größten Massenmörders der Weltgeschichte? Sechs Jahrzehnte blieb die Antwort meist Spekulationen überlassen. „Die israelischen Behörden werden niemals die Umstände der Festnahme des ehemaligen SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann bekanntgeben. Nur so viel: Er ist vom israelischen Geheimdienst ohne Mithilfe ausländischer Agenten gefasst worden“, erklärte Polizeichef Jossel Nahmias am Tag der Ankunft des Entführten auf israelischem Boden.

Ihr Wissen über den Anteil der eigenen Familie am „Fall Eichmann“ hat Rosemarie Pohl ihrer Tochter Sigrid Wobst kurz nach dem Soester Kaffeekränzchen 2013 in den Block und in ein Band diktiert. Die Tochter gab das Material an das Fritz Bauer-Institut der Universität Frankfurter. Die Angaben wurden hier eingehend geprüft. Die Fotoalben, die Protokolle der Gespräche mit der Mutter, die Tagebuchnotizen von Rosemarie Pohl, fein säuberlich in Sütterlin aufgeschrieben – all das hat Wobst in einem großen, weißen Karton gesammelt. Der brisante Inhalt deckt einen Kern der israelischen „Operation Finale“ auf.

Giselher Pohl
Giselher Pohl © Handout | Handout

Zwei Männer im Revier, 2013 – Die in den Stapeln versteckten Spuren auf die Hinweisgeber führen ins Ruhrgebiet. Gerhard Klammer, Geologe, vor 1950 in Dortmund und nach 1957 in Duisburg wohnend, war, was bisher völlig unbekannt war, die zentrale Quelle der Eichmann-Fahnder. Er war auf den Untergetauchten in Argentinien gestoßen. Und Rosemarie Pohls Ehemann, der Pfarrer Giselher Pohl in Unna, schleuste Klammers Information auf dessen eindringliche Bitten gezielt in die Kanäle, die in der Lage waren, den SS-Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen. Das Verblüffende: Bis Ende August 2021, bis vor gut zwei Monaten also, wusste fast niemand von ihrer Bedeutung für die Jagd auf Adolf Eichmann. Erst in diesem Sommer wurde in einem dreiseitigen Dossier der „Süddeutschen Zeitung“ über die Entdeckung berichtet. Die Zeitzeugin und Pohl-Tochter Sigrid Wobst hat unserer Redaktion jetzt Einblick in Dokumente und Fotos gewährt.

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Argentinien, 1950 – Über Gerhard Klammers Vorleben ist einiges bekannt, auch, weil darüber ein Reporter der WAZ berichtet hat. „Ww“, so dessen Kürzel, beschreibt in der Ausgabe vom 17. August 1950 auf der Seite „Aus dem Westen“ die Planungen einer 29-jährigen Frau, die dabei war, mit ihren Kindern ihrem nach Südamerika ausgewanderten Mann Gerhard zu folgen. In der Wohnung ihrer Eltern im Dortmunder Kreuzviertel erzählt Ilse Klammer, wie der frisch gebackene Geologe Gerhard Klammer im Nachkriegsdeutschland keine Assistentenstelle fand, wie auch die Arbeit als Lokalreporter in Göttingen nicht für ein Auskommen reichte und „wie wir im Spätherbst 1949 alles auf eine Karte setzten“. Klammer habe sich in Genua nach Argentinien ausgeschifft, Ankunft dort am 4. Januar. Als Ilse Klammer mit den Kindern am letzten Dezembertag in Südamerika eintrifft, freut sich ihr Mann nicht nur über die wiedervereinigte Familie. Er hat auch seit einiger Zeit eine neue Arbeit. Ihn hatte das Angebot einer Firma namens „Compania Argentina para Proyectos y Realizaciones Industriales“, kurz Capri, überzeugt. In Tucuman, im Norden Argentiniens, soll er beim Bau eines Wasserkraftwerks helfen. Klammer sagt zu.

Das Unternehmen wird geführt von einem Horst Carlos Fuldner. Was der Geologe nicht weiß: Fuldner war Hauptsturmführer der SS, sein auf Industriebau spezialisiertes Unternehmen dient mit Deckung durch die argentinische Regierung Peron als Asyl geflohener deutscher Kriegsverbrecher. Unbelastete Fachleute wie Klammer braucht Fuldner, um nach außen hin gute Arbeit abliefern zu können. Spätestens als der Dortmunder einen ziemlich „schlampigen“ Assistenten namens Ricardo Klement unterstellt bekommt, befällt ihn eine Ahnung. In der Belegschaft gibt es ein halbgeheimes Wissen: Dieser Mann ist Adolf Eichmann, der Organisator der Judenvernichtung in den Gaskammern der Nazis. Von jetzt an hat Klammer ihn auf dem Radarschirm – und wird scheitern, als er das Versteck Eichmanns den deutschen Behörden melden will. Zu viele in den Ämtern schützen noch alte NS-Parteigänger. In Deutschland, wo man sich dem Wirtschaftswunder widmet, herrscht weithin Desinteresse an der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen. Heute sind die Belege für Klammers Meldung verschwunden.

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Ruhrgebiet, 1958 – In Klammers argentinischen Jahren ist viel passiert. Präsident Juan Peron ist abgesetzt. Die Capri-Organisation ging pleite, die beruflichen Wege von Gerhard Klammer und Adolf Eichmann alias Ricardo Klement trennten sich. Klammer und seine Familie kehren nach Deutschland zurück. Die Deutsche Maschinenbau AG in Duisburg, Demag, ist jetzt sein Arbeitgeber. In Duisburg bauen sie ein Haus. Sie können jetzt ihre besten Freunde häufiger sehen, die Pohls in Unna, mit denen sie immer im Briefkontakt geblieben sind. Pohl ist Militärpfarrer bei der noch jungen Bundeswehr. Wenn Klammer nach Unna kam, habe sie sich gefreut, erzählt heute Sigrid Wobst: „Er war ein schöner Mann. Die Mädchen haben für Gerhard Klammer geschwärmt. Er kam aus der großen Welt, brachte immer etwas mit.“ Doch in seinen Gedanken wird Weltenbummler Klammer auch in seiner deutschen Heimat von Eichmann alias Klement verfolgt. Zuletzt, in Buenos Aires, hat er ihn an einer Bushaltestelle gesehen. Ein Zufall. Er folgte ihm heimlich, hörte sich am Ziel bei Anwohnern der Umgebung um und merkt sich die Adresse.

Duisburg, ein Sonntag 1959 – Die Pohls fahren mit dem VW quer durchs Ruhrgebiet. Sonntags-Besuch bei Klammers in Duisburg. Es ist der 18. Oktober 1959, eine gemütliche Runde soll es werden. Doch der Tag nimmt eine überraschende Wendung. Gerhard Klammer zieht „Gisel“ Pohl zur Seite. Er kennt das Netzwerk, in das der geistliche Freund aus Göttinger Studienzeiten eingebunden ist. Er will es nutzen. Er sagt, der Eichmann werde doch noch gesucht. Den müsse man „finden, aufgreifen und bestrafen“. Und: „Ich weiß, wo er ist.“ In Buenos Aires, Vorort Olivos, Haus 4261 in der Calle Chacabuco. Sein Name dort: Ricardo Klement. Ob nicht der Freund seinen Draht zu Bischof Hermann Kunst in Bonn aktivieren könne, zum obersten evangelischen Militärseelsorger in Westdeutschland? „Gisel, ich will, dass du zum Bischof gehst!“ Pohl wird gehen. Dieses sonntägliche Treffen in Duisburg bringt die Sache ins Rollen.

Rosemarie Pohl hat alles über die nun folgenden Wochen aufgeschrieben. Dass Klammer noch zu einem Kurzaufenthalt in Unna war, wohl Beweismaterial für den anstehenden Besuch bei Kunst hinterlegt hat und wohl auch ein bemerkenswertes Foto. Aufgenommen ist es in Tucuman. Neun Personen stehen um ein Auto. Der vierte, hochgewachsene Mann von links ist Gerhard Klammer. Auf dem Bild links daneben: Adolf Eichmann. Am 10. November 1959 notiert sie: „Vati auf dem Weg zum Bischof nach Bonn.“In der Bundeshauptstadt handelt Bischof Kunst richtig. Er wendet sich direkt an die Justiz und an den Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in Hessen. Der Top-Jurist ist Eichmann schon lange auf der Spur. Weil er seinen deutschen Kollegen nicht traut, hat er Kontakt mit den Israelis aufgenommen. Schon 1957 hat er ihnen einen Namen genannt, „Clemens“, mit C, und das Land: Argentinien. Aber die Information war in Teilen unrichtig. Bisher waren die Mossad-Chefs von der Aussage des Zeugen Lothar Hermann, eines von den Nazis gefolterten Juden, nicht überzeugt. Bauer braucht den „zweiten Informanten“. Er reist ins Ruhrgebiet.

Im Pfarrerhaus in Unna, 1959 – Schauplätze der Zeitgeschichte verstecken sich oft. Wie das kleine Vorstadthaus in Unna, nicht weit von Stadtgrenze nach Dortmund. Im Erdgeschoss, am Wohnzimmertisch, hat sich der Generalstaatsanwalt vor mehr als sechs Jahrzehnten die brisanten Informationen über Eichmann bestätigen lassen. Hier wohnte die Familie von Pfarrer Pohl. Und hier hat es - am 25. November 1959 - das vielleicht wichtigste der geheimen Treffen gegeben, die der Festsetzung des Adolf Eichmann vorangingen. Die Tochter von Giselher und Rosemarie Pohl kann sich an diesen Mittwoch erinnern. Ein großer, schwarzer Mercedes fuhr vor, gesteuert von einem Chauffeur. Der Besucher war ein belesener Mann, freundlich, seine markante Stimme schwäbelte. Er nahm im Wohnzimmer Platz. Die Kinder, auch Sigrid, mussten den Raum verlassen. Drei Personen blieben. Neben dem Besucher Fritz Bauer nur Giselher Pohl und seine Frau. Bauer merkte sich, was er hörte, ohne Notizen. Nach dem Kaffee reiste er - vielleicht mit dem Eichmann-Foto im Gepäck? - zurück nach Frankfurt. Er buchte den Flug. Am 3. Dezember 1959, acht Tage nach dem Treffen im Pfarrerhaus in Unna, gab Bauer in Jerusalem der Spitze des israelischen Geheimdienstes zu Protokoll, was er bei den Pohls in Deutschland erfahren hatte. Mossad-Chef Isser Harel schrieb dazu viel später: Es sei „der entscheidende Anstoß“ gewesen, der es ermöglicht habe, Eichmann im Mai 1960 in Buenos Aires zu kidnappen und 12.000 Kilometer entfernt in Israel vor Gericht zu stellen.

Giselher Pohl führte der spätere Lebensweg mit der Familie über die Niederlande und El Paso/USA zurück ins Ruhrgebiet. In Bochum übernahm er die evangelischen Pfarreien Engelsburg und Steinhagen. 1996 starb er. Rosemarie Pohl, die auf der Familienfeier in Soest eher beiläufig von der Israelreise ihrer Jugend erzählte und die lange bewahrten Geheimnisse mitteilte, starb kurz vor Weihnachten 2013 im Alter von 92 Jahren.

Gerhard Klammer, der seinen ehemaligen Assistenten Ricardo Klement als Adolf Eichmann enttarnen konnte, zog nach der Entführung Eichmanns 1960 für sich selbst einen Schlussstrich unter das Thema. Eine Einladung an seine Familie, ein Dankeschön des israelischen Staates wie für die Pohls, lehnte er ab. Klammer starb 1982.

Fritz Bauer kümmerte sich nach 1960 um die Anklage gegen die Mörder von Auschwitz und führte den ersten großen NS-Prozess unter deutscher Regie. 1968 wurde er tot in der Badewanne seiner Wohnung gefunden. Die Gerichtsmediziner gingen von einem natürlichen Tod des herzkranken Mannes aus.

Adolf Eichmann alias Ricardo Klement wurde am 11. Dezember 1961, vor jetzt bald 60 Jahren, in Jerusalem zum Tode verurteilt. Nachdem sein Revisionsantrag und sein Gnadengesuch abgelehnt worden waren, wurde Eichmann am 31. Mai 1962, kurz vor Mitternacht, gehängt.

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