Essen. In den 80er- und 90er-Jahren mordete die irische Terrorgruppe IRA auch in Deutschland. Die Regierung in London will eine Amnestie für alle Taten.

Langsam rollt der VW Jetta vom Hof der Tankstelle im niederrheinischen Wegberg-Wildenrath. Doch das Fahrzeug kommt nicht weit. Eine Salve aus einer Kalaschnikow trifft den Wagen. Mick Islania (34), ein Korporal der britischen Rheinarmee, wird auf dem Beifahrersitz von elf Kugeln getroffen. Er ist sofort tot. Smita, seine Frau, verreißt in ihrer Panik das Steuer, der Jetta schleudert über den Straßengraben in einen Garten. Im gleichen Moment schlägt eine Kugel durch die Heckscheibe in den Kindersitz der sechs Monate alten Tochter Nivruti, trifft den Säugling tödlich. Zeugen berichten später, wie die unter Schock stehende Mutter ihr totes Mädchen im Arm hält und nicht loslassen will. Da sind die Täter schon auf und davon.

Katrin Seiler, Ermittlerin beim Bundeskriminalamt, war an jenem 26. September 1989 am Tatort. Sie erinnert sich: „So etwas vergisst man nicht leicht, besonders wenn man selbst Kinder hat.“

Der Anschlagsterror der IRA

Nach mehr als drei Jahrzehnten ist die öffentliche Erinnerung an den Doppelmord verblasst – aufgeklärt und geahndet ist die Tat jedoch nicht. Das gleiche gilt für drei weitere Morde in Bielefeld, Unna und Dortmund in der Zeit zwischen 1980 und 1990, für zwei weitere Morde in Niedersachsen und mehrere Mordversuche. Sicher ist nur: Alle Taten haben den gleichen Hintergrund. Die Mörder stammen aus den Reihen der Irisch-Republikanischen Armee (IRA). Die Terror-Organisation hat sich zu jeder einzelnen dieser Taten bekannt – ohne freilich je zu sagen, wer genau die Schützen waren.

Ein britischer Militärpolizist untersucht Spuren nach dem Anschlag auf die „Quebec Barracks“ in Osnabrück 1996.
Ein britischer Militärpolizist untersucht Spuren nach dem Anschlag auf die „Quebec Barracks“ in Osnabrück 1996. © picture alliance / Ingo Wagner/dpa | Ingo Wagner

Zum Hintergrund: Die IRA wollte in jenen Jahren mit Gewalt die Unabhängigkeit Nordirlands von Großbritannien erzwingen. Die Gefechte zwischen IRA, den nordirischen Loyalisten und der britischen Armee forderten auf allen Seiten mehr als 3000 Todesopfer, die allermeisten davon sin Großbritannien und Irland. In den 70er- und 80er-Jahren suchte die IRA ihre Anschlagsziele vermehrt unter Angehörigen der im Westen der Bundesrepublik stationierten Rheinarmee – so wie in Wegberg.

Die Akten der deutschen Fälle liegen bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Tauchen neue Hinweise auf, müssen die Ermittlungen nach deutschem Recht – Mord verjährt nicht – wieder aufgenommen werden. Doch die ohnehin geringe Hoffnung auf neue Hinweise schwindet noch mehr, seit im Sommer die Regierung von Premier Boris Johnson in London über eine Amnestie für alle Verbrechen nachdenkt, die im Zusammenhang mit dem Nordirland-Konflikt stehen. Johnson will einen Schlussstrich. Im Vereinigten Königreich und auch in Irland führt das zu heftigen Debatten. Die fünf wichtigsten Parteien in Nordirland – sowohl Anhänger der Union mit Großbritannien als auch Unterstützer einer Wiedervereinigung mit dem EU-Mitglied Republik Irland – sowie die irische Regierung und Opferorganisationen sind allesamt gegen eine Amnestie. „Opfer und Überlebende sollten nicht derart behandelt werden“, empörte sich etwa die Organisation Wave mit, die mit Hinterbliebenen arbeitet.

Der Amnestie-Plan könnte für die Strafverfolgung durch deutsche Ermittler praktische Folgen haben. Ermittlungen in Großbritannien würde es kaum mehr geben, wichtige Informationen durch britische Kollegen könnten wegfallen.

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Die Serie der fünf IRA-Morde und mehr als 40 Mordversuche in NRW beginn in der Nacht vom 18. auf den 19. August 1978. Vor acht britischen Kasernen in Mönchengladbach, Krefeld, Düsseldorf, Ratingen, Duisburg, Mülheim/Ruhr, Bielefeld und Minden detonierten spät abends Sprengkörper. Die Schäden blieben zunächst überschaubar. Doch die Anschläge dehnten sich bald auf Niedersachsen aus, sie wurden gefährlicher.

Februar 1980, Bielefeld. Colonel Marc Coe, Vater von sechs Kindern, stirbt nach drei Schüssen auf seinen Citroen. Nur zwei Monate später: In Münster wird der Militärpolizist Stewart Leach bei einem Attentat schwer verletzt. 1987, Mönchengladbach: Nahe einer Offiziersmesse detoniert eine 100-Kilo-Autobombe. 31 Menschen tragen schwere Verletzungen davon, darunter 27 Deutsche. „Ein Wunder, dass es keine Toten gibt“, zeigt sich der damalige Düsseldorfer Innenminister Herbert Schnoor betroffen. Ein Vierteljahr darauf: Wieder Duisburg. Eine Bombe verletzt zehn Soldaten im Schlaftrakt der Glamorgan-Barracks im Stadtteil Wanheimerort. Bei der Verfolgung wird ein Streifenwagen mit Schüssen unter Feuer genommen. Und am 1. September 1989 fragen Unbekannte in Münster zwei englische Soldaten in Zivil nach dem „Weg nach Dortmund“. Dann feuern die Fragesteller. Die beiden 18- und 19-jährigen Soldaten überleben schwer verletzt.

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Das Opfer kam gerade von einer Party

In der Dortmunder Gartenstadt ist es der 1. Juni 1990 kurz vor Mitternacht. Major Michael Dillon-Lee, (34), Vater von Marc (9) und James (7), kommt mit seiner Ehefrau Rosalind von einer Party zurück. Der Offizier will die Wohnungstür in der Max-Eydt-Straße öffnen, als ein gestohlener silberner Mazda mit Dortmunder Kennzeichen auftaucht. Ein maskierter, schwarz gekleideter Insasse zieht eine Maschinenpistole des Typs K-47 und feuert „aus einer Entfernung von zum Teil weniger als 50 Zentimeter“ zehn Schüsse auf Dillon-Lee ab, wie die Bundesanwaltschaft später feststellte. Sechs mal in den Kopf getroffen sinkt er zu Boden. Rosalind Dillon-Lee will noch einen irischen Triumphschrei der Täter gehört haben. Der Major stirbt um 0.20 Uhr. Streifenwagen der Polizei können das Tatfahrzeug zwar orten und verfolgen. Sie liefern sich mit den Insassen auch einen Schusswechsel, bei dem ein Polizist verletzt wird. Im Chaos verlieren sie jedoch den Anschluss.

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Nicht weit entfernt, in Unna-Massen, hatte kurz zuvor ein ähnlich brutaler Überfall einer 26-jährigen Deutschen das Leben gekostet. Heidi Hazell, deren Mann Unteroffizier der Briten war, parkte am Abend des 7. September 1989 ihren dunkelblauen Saab mit GB-Kennzeichen vor einem Supermarkt ein, als 14 MP-Kugeln Wagenblech und Scheiben zerfetzten. Zwölf davon trafen die Frau. Die IRA bekannte sich zum Attentat mit dem Hinweis, die Schüsse seien auch eine Warnung an Zivilisten, sich zu sehr britischem Militärpersonal zu nähern. Fahnder und Justiz haben bisher in keinem der Fälle Täter beweiskräftig ermitteln und zur Verantwortung ziehen können. Andre Krischer ist Privatdozent an der Universität Münster, hat mit Studierenden eine Dokumentation über die IRA-Anschläge in Westdeutschland zusammengestellt. „Wir wissen nicht, wer die Täter waren. Die Leute sind nie gefasst worden“, sagt er. Der Historiker geht davon aus, dass die deutsche Polizeiarbeit in diesen Jahren „eher unzulänglich“ verlaufen ist. „Es gab damals Kritik der britischen Polizeibehörden. Sie betraf die verschiedenen Zuständigkeiten in Deutschland und die Zusammenarbeit mit der britischen Militärpolizei. Da haben die deutschen Kollegen lieber auf eigene Faust ermittelt und dann nichts herausbekommen.“

Einige wenige Indizien gibt es. Sie betreffen die Tatwaffe. Für die Morde an Heidi Hazell, Major Michael Dillon-Lee und Mick Islania und seiner kleinen Tochter Ivruti könnte nach ballistischen Untersuchungen ein- und dieselbe Kalaschnikow genutzt worden sein. Deutet dies darauf hin, dass vor allem 1989/1990 ein reisendes Killer-Team der irischen Terroristenorganisation an Rhein und Ruhr unterwegs war? Der Zusammenhang ergibt sich aus den Papieren der Bundesanwaltschaft. Auch Krischer hält das für denkbar: „Diese Leute sind nach Deutschland geschickt worden. Es handelte sich um professionelle Killer, die schon in Nordirland ihr Unwesen getrieben haben, auch mit Schutzgelderpressungen und Drogen“.

Hatten die Mörder deutsche Helfer?

Die Bundesregierung war vor solchen IRA-Kleinsteinheiten gewarnt. Man wusste: „Action Service Units“ waren auf britische Kasernen in Deutschland angesetzt und konnten jederzeit zuschlagen. Auch seien Wohnsiedlungen britischer Militärangehöriger im Großraum Ruhrgebiet ausgespäht worden, räumte die Bundesregierung Anfang 1990 in einer Mitteilung an den Bundestag ein. Fahndungen mit Straßensperren blieben jedoch erfolglos. Und offen ist auch, ob die Mörder für Tatausführung oder Fluchtrouten deutsche Helfer hatten.

Nordirland gehört zum Vereinigten Königreich und teilt sich eine Insel mit der Republik Irland. Nordirland hat weniger als zwei Millionen Einwohner, die meisten leben in der Hauptstadt Belfast.

Im Nordirland-Konflikt kämpften pro-irische Katholiken unter Führung der Untergrundorganisation IRA gegen protestantische, pro-britische Loyalisten. Im Kern ging es darum, ob der zu Großbritannien gehörige Nordteil Irlands wieder mit der Republik im Süden vereinigt werden soll.

Zwischen 1969 und 2001 starben mehr als 3600 Menschen. Am 10. April 1998 unterzeichneten die irische und die britische Regierung sowie die Parteien in Nordirland das Karfreitagsabkommen; damit wurden die bewaffneten Auseinandersetzungen beendet. Das Abkommen sah eine Entwaffnung der paramilitärischen Gruppen auf beiden Seiten sowie eine Amnestie für die Kämpfer vor.

Auch heute noch sind die Spannungen beider Konfessionen sichtbar – etwa durch sehr hohe Mauern zwischen Nachbarschaften in Belfast.

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