Bochum. Basi gul Sharifi lebte im Iran und in Afghanistan. Doch als Aktivistin war sie in keinem der Länder sicher – und floh bis nach Bochum.
Für Basi gul Sharifi ist Frieden nur ein Wort, „aber eines mit großer Bedeutung“. Auf der Suche nach ihm hat sie viel zurückgelassen. Erst ihre Familie im Iran, Jahre später dann den Vater ihres Sohnes, ihre Freunde und ihren Job in Afghanistan. „Ich habe immer nach einem Ort gesucht, an dem mein Sohn und ich sicher leben können“, sagt die 40-Jährige.
Nach fast vier Jahren auf der Flucht hat sie diesen Ort gefunden: Seit einem halben Jahr leben sie und ihr siebenjähriger Sohn in Bochum. Er kann zum ersten Mal eine Schule besuchen, sie lernt Deutsch, trifft sich mit anderen Geflüchteten – und setzt sich aus der Ferne für die Frauen und Unterdrückten in ihren Heimatländern ein.
Afghanin arbeitet als Autorin und Aktivistin
Sharifis Eltern kommen ursprünglich aus Afghanistan, flohen aber ein Jahr nach der Geburt ihrer Tochter in den Iran. Dort lebte die Familie in der Hauptstadt Teheran, einer Millionen-Metropole. „Die Stadt ist wunderschön“, sagt Sharifi.
Doch die Lebensbedingungen seien nicht gut gewesen, sie hatte Schwierigkeiten, einen Job zu finden, in der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Mit 30 Jahren beschloss sie daher, ihre Familie zu verlassen, um ihre „wahre Heimat“ kennenzulernen.
In Kabul arbeitete sie als Lehrerin, veröffentlichte Gedichte und Aufsätze und engagierte sich als Aktivistin für die Rechte von Frauen und Unterdrückten. Zu dieser Zeit, noch bevor die Taliban wieder an die Macht kamen, hatten Frauen relativ viele Freiheiten, erinnert sich Sharifi: „Mädchen durften die Schule besuchen, an der Uni studieren. Frauen hatten das Recht, alleine rauszugehen, sich in Cafés zu treffen. Wir hatten sogar Ministerinnen.“
Mit Gedichten gegen Unterdrückung in Afghanistan
Trotzdem habe es viele Missstände im Land gegeben, besonders in den ländlichen Regionen seien die traditionellen Geschlechterrollen, mit denen eine Unterdrückung der Frau einhergehe, noch tief in den Köpfen der Menschen verankert gewesen.
Dagegen wollte Sharifi ankämpfen – mit ihren Gedichten und Aufsätzen und auch auf Demonstrationen, bei denen sie ihr Leben riskierte. Dabei setzte sie sich nicht nur für die Rechte der Frauen ein, sondern etwa auch für die der Hazara. „Die Hazara sind eine ethnische Gruppe in Afghanistan, zu der auch ich gehöre“, sagt Sharifi. „Sie werden seit mehr als 100 Jahren unterdrückt, schikaniert und sogar ermordet.“
Oft hätten politische Gegner daher versucht, die Demonstrationen zu unterbinden. Sharifi sei mehrmals Zeugin von Bombenanschlägen geworden, habe „vielleicht hundert Meter“ vom Detonationsort entfernt gestanden. Sie sah Menschen sterben, sammelte Leichenteile auf, verlor zahlreiche Freundinnen und Freunde. Zum 8. März, dem Internationalen Frauentag, veröffentlichte sie in mehreren Zeitungen Artikel und hielt eine öffentliche Rede.
Sie klärte darüber auf, dass der Körper einer Frau ihr gehöre, dass die Periode kein Tabu-Thema mehr sein dürfe und räumte mit dem Mythos des Jungfernhäutchens auf. „In Afghanistan gibt es nicht viel Platz für eine Aktivistin. Ich wurde bedrängt und bedroht. Einmal wurde ich auf offener Straße angegriffen. Ich dachte früher immer, dass ich das aushalte. Aber ich habe jetzt ein Kind und muss dafür sorgen, dass es in Sicherheit ist.“
Brand im Flüchtlingslager auf Samos
Im Jahr 2019 packte Sharifi ihren Sohn und ein paar wenige Sachen, und verließ nach sieben Jahren das Land, das sie so liebte, in dem sie trotz aller Widerstände „die beste Zeit“ ihres Lebens hatte. Die Flucht führte sie erst zurück in den Iran, dann in die Türkei.
Von dort aus schafften sie es beim sechsten Versuch mit dem Schlauchboot an die Küste von Samos. Das griechische Flüchtlingslager war ursprünglich für einige Hundert Menschen ausgelegt, Sharifi und ihr Sohn lebten dort mit tausenden anderen in Zelten am Waldrand. Das Camp brannte ab, einmal, zweimal, beim dritten Mal nahm das Feuer alles, was sie besessen hatten.
Taliban nehmen Kabul kampflos ein
All ihre Zweifel, ob der Schritt, ihre Heimat zu verlassen, dennoch der richtige war, wurden im Sommer des vergangenen Jahres ausgeräumt: Kurz nachdem erst die USA, dann alle ausländischen Truppen Afghanistan verließen, nahmen die Taliban am 15. August 2021 praktisch kampflos Kabul ein.
Etliche Menschen versuchten zu fliehen, einige klammerten sich aus Verzweiflung gar an den ausgefahrenen Fahrwerken der wenigen Evakuierungs-Flugzeuge fest. Die Videos davon erschütterten die ganze Welt. Sie landeten auch auf Sharifis Smartphone-Bildschirm, dazu etliche Textnachrichten von ihren Freundinnen und Freunden und ihrer Schwester, die noch in Afghanistan lebten.
„Es war ein Schock. Ich habe mir so große Sorgen gemacht. Meine Schwester schrieb mir an dem Tag, dass sie gewarnt wurde und nicht ins Büro gegangen ist. Aber die Taliban bedrohten sie, sagten, sie würden sie finden.“ Zum Glück schaffte ihre Schwester es raus, genauso wie die meisten ihrer Freundinnen und Freunde.
Während für sie die Flucht damit begann, endete sie für Sharifi kurze Zeit später. Doch als sie Deutschland erreichte, endlich in Sicherheit war, legten sich die vielen traumatischen Erfahrungen wie ein Schleier über sie: „Mein Körper war müde von den vielen Camps, den vielen Städten, den vielen Menschen. Ich habe die ersten Monate nur geschlafen. Ich habe nicht mal geweint, ich habe einfach nichts mehr gefühlt. Es stieg eine große Dunkelheit in mir auf.“
Attentat in Afghanistan
Ausgerechnet ein Attentat in ihrer Heimat habe sie aus dieser Ohnmacht gerissen. Terroristen hatten einen Anschlag auf eine Schule in Kabul verübt. 56 Menschen, vor allem Frauen und Mädchen, wurden dabei getötet.
„Sie gehörten alle der Hazara-Gemeinde an. Danach haben Hazara-Frauen auf den Straßen demonstriert. Jede einzelne von ihnen hat ihr Leben riskiert. Ihr Mut hat mir Kraft gegeben. Also habe ich mir gesagt, dass es Zeit wird, dass ich wieder zu mir zurückkomme. Ich lebe schließlich in einem sicheren Land, in dem ich protestieren kann“, sagt Sharifi.
Seitdem organisiert sie zusammen mit Freundinnen und Freunden regelmäßig Demonstrationen – für die Menschen in ihrer Wahl-Heimat Afghanistan, aber auch für die Protestierenden in ihrer zweiten Heimat, dem Iran, in dem immer noch ein Teil ihrer Familie lebt.
Demonstrationen für Menschenrechte unter #StopHazaraGenocide
„Ich poste quasi abwechselnd Beiträge, einen zu Afghanistan, dann einen zum Iran, um die Leute zu informieren“, sagt Sharifi. Unter dem Hashtag #StopHazaraGenocide, der von den protestierenden Frauen in Afghanistan ins Leben gerufen wurde, sind fast 16 Millionen Posts zu finden, mittlerweile finden in vielen Städten weltweit regelmäßig Demonstrationen statt.
Manchmal fühle Sharifi sich schuldig, da sie die Menschen nur aus der Ferne unterstützen kann. Sie denkt, dass andere, die wie ihre Schwester länger in Afghanistan geblieben sind oder die dort noch heute für ihre Rechte auf die Straßen gehen und dabei ihr Leben riskieren, mutiger sind als sie selbst.
„Ich kann hier nicht viel mehr tun, als Aufmerksamkeit zu schaffen“, sagt Sharifi. „Mein Körper hat Afghanistan zwar verlassen, aber meine Gedanken sind noch dort.“ Trotzdem versuche sie, sich nun in Bochum ein neues Zuhause aufzubauen, Teil der Gesellschaft zu werden – und zu lernen, was es heißt, in Frieden zu leben.
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