Essen. Ob Kinderarbeit, Zwangsprostitution oder Leibeigenschaft: Millionen Menschen werden weltweit als Sklaven ausgebeutet – auch in Deutschland.
Ob Kinderarbeit, Zwangsprostitution oder Leibeigenschaft: Weltweit leben mehr als 40 Millionen Menschen in Sklaverei, ein Viertel von ihnen sind Kinder. Sie werden in Fabriken, Minen, Haushalten oder Bordellen festgehalten, ausgebeutet und missbraucht.
Obwohl kein einziger Staat die moderne Sklaverei mehr gesetzlich legitimiert, passiert sie quasi in jedem Land – auch in Deutschland, sagt Entwicklungsexperte Dietmar Roller. Er leitete lange die Kindernothilfe mit Hauptsitz in Duisburg und ist nun Vorsitzender der NGO „Justice Mission Deutschland“.
In seinem neuen Buch „Ware Mensch“, das er zusammen mit Judith Stein veröffentlicht hat, erzählt er von den vielen Sklaven, die er selbst getroffen hat, und deckt Missstände im Rechtssystem auf. Mit Sophie Sommer sprach er auch darüber, was jeder einzelne tun kann, um Sklaverei zu bekämpfen.
Herr Roller, darf man die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar gucken?
Ja, man kann die WM gucken. Aber mit dem Bewusstsein, dass hier einiges schiefgelaufen ist. Ich würde mich zum Beispiel freuen, wenn es während der Spiele eine Art Gedenkminute geben würde für die Menschen, die ihr Leben für den Bau der Stadien lassen mussten. Damit man daran erinnert, dass moderne Sklaverei unter keinen Umständen zu tolerieren ist.
Beim Stichwort Sklaverei denken viele wahrscheinlich zuerst an den transatlantischen Menschenhandel, der bereits im 18. und 19. Jahrhundert abgeschafft wurde. Was unterscheidet moderne Sklaverei davon?
Heute leben wir in einer ganz anderen Welt. Sklaverei per se ist inzwischen in keinem einzigen Land mehr legitim. Gleichzeitig wissen wir, dass mehr als 40 Millionen in Sklaverei leben. Das liegt daran, dass sich das Geschäftsmodell Sklaverei wie ein Chamäleon versteckt.
Wie meinen Sie das?
In der klassischen Entwicklungszusammenarbeit liegt der Fokus häufig woanders: Menschen in Armut haben keinen Zugang zum Wasser, also bauen wir Brunnen. Oder Menschen in Armut haben kein Zugang zu Bildung, also bauen wir Schulen und bilden Lehrkräfte aus.
Was man aber lange übersehen hat, ist, dass Menschen in Armut oft auch keinen Zugang zum Rechtssystem haben. Und da liegt die Wunde. Wenn Menschen keinen Zugang zum Rechtssystem haben, leben sie in für sie rechtsfreien Räumen. Sie sind schutzlos Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt. Und in diesen rechtsfreien Räumen, wo niemand genau hinsieht oder eingreift, bilden sich die Geschäftsmodelle von moderner Sklaverei – die Sklaverei versteckt sich also dort, deshalb spreche ich oft vom „Chamäleon-Effekt“.
Moderne Sklaverei versteckt sich wie ein Chamäleon
Wie haben Sie dieses Chamäleon enttarnt?
Mein Schlüsselerlebnis war in Haiti nach dem großen Erdbeben im Jahr 2010. Dort werden vor allem Mädchen als sogenannte Restavek-Kinder an Familien verkauft. Ich habe zum Beispiel Amelie getroffen. Als Fünfjährige wurde sie vom Land in die Stadt verkauft.
Seitdem arbeitete sie meist 14 Stunden am Tag. Sie kochte, putzte und hütete die kleineren Kinder. Wenn sie etwas falsch machte, hat ihre „Madame“ sie mit dem Bügeleisen verbrannt, regelmäßig wurde sie vom Sohn und dem Mann der „Madame“ vergewaltigt.
Von dieser Rechtlosigkeit der Kinder erzählte ich dem deutschen Botschafter in Haiti und sagte ihm, dass das Sklaverei sei. „Sprechen Sie bloß nicht von Sklaverei“, unterbrach er mich eindringlich. Und da habe ich gedacht: Nein, wir müssen das Schweigen brechen, wir müssen den Begriff wieder einführen. Nur so kann man die Sklaverei bekämpfen: Wenn man weiß, um was es geht und das Verbrechen klar benennt.
Was genau macht Sklaverei aus, wie unterscheidet sie sich zum Beispiel von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen?
Die Linie ist dünn. Jede Form von Sklaverei ist Ausbeutung, aber nicht jede Form von Ausbeutung ist auch Sklaverei. Bei Sklaverei geht es darum, dass Menschen verkapitalisiert werden. Im Palermo-Protokoll aus dem Jahr 2000 wird das sehr gut beschrieben: Es geht um Situationen, aus denen die Menschen selbst nicht mehr herauskommen, weil eine andere Person die Verfügungsgewalt über sie hat. Zum Beispiel, weil ihnen der Pass abgenommen wurde.
So wie es häufig in der Zwangsprostitution passiert?
Genau. Auch bei der Zwangsprostitution kommt wieder das Chamäleon ins Spiel: Weil wir Prostitution in Deutschland entkriminalisiert haben, ohne das Feld weiter zu kontrollieren, konnten sich illegale Geschäftsmodelle ausbreiten. Ich teile die Ansicht von einigen Kriminalfachleuten, dass heute 70 bis 80 Prozent der Prostitution in Deutschland nicht freiwillig ausgeübt wird und deshalb Zwangsprostitution und damit Sklaverei ist.
Entwicklungsexperte: Bordelle in Deutschland „füllen sich mit Frauen aus der Ukraine“
In ihrem Buch schreiben Sie, dass aktuell vielen ukrainischen Frauen droht, Opfer von Zwangsprostitution zu werden. Ein Zeichen dafür, dass Krisen die Gefahr der Sklaverei erhöhen?
Eine Flucht ist immer gefährlich. Wenn jemand zuhause ist, ist er meistens in einem sozialen, in einem rechtlichen Netzwerk gesichert. Diese Sicherheit fällt weg, wenn man flieht. In der Ukraine ist es ja eine Fluchtbewegung von Frauen und Kindern. Die ersten Anwerbeversuche von Menschenhändlern sind noch auf ukrainischen Boden passiert.
„Hier du bekommst ein Zimmer, wir nehmen dich mit“, so haben die Menschenhändler die Frauen gelockt. Und jetzt sehen wir, dass sich in Berlin einzelne Bordelle mit Frauen aus der Ukraine füllen. Das zeigt eindeutig, dass diese Verletzlichkeit schamlos ausgenutzt wird von Menschenhändlerinnen und -händlern.
Auch der Fleischkonzern Tönnies soll Medienberichten zufolge versucht haben, an der Grenze gezielt Arbeitskräfte unter den Geflüchteten abzuwerben. Sie warnen generell vor dem System der Leiharbeit, wie es in der Fleischindustrie häufig vorkommt, da dieses den Nährboden für Sklaverei biete. Wieso?
Leiharbeit hat in einer globalisierten Gesellschaft durchaus positive Akzente: Menschen aus ärmeren Ländern haben die Chance, Arbeit zu finden und Geld zu verdienen. Was weniger positiv ist, sehen wir in der Fleisch- und Bauindustrie. Die Leiharbeiter aus dem Ausland sind oft über zahlreiche Subfirmen angestellt.
So können sich die deutschen Konzerne rausreden: Sie sagen, sie zahlen nach deutscher Norm. Aber es hängen so viele Leihfirmen damit drin, dass am Ende keiner mehr durchblickt, wer was daran verdient. Ich kenne Fälle aus der Bauindustrie, bei denen die Arbeiter von ihrem Lohn, der zum Beispiel bei 1500 Euro liegt, nur 400 Euro bekommen.
Davon müssen sie dann oft noch die überteuerten Zimmer und die Schulden für die Vermittlung abbezahlen. Vielen von ihnen wurde auch der Pass abgenommen. Ich habe Menschen in Rumänien gesprochen, die nach einem halben Jahr Arbeit in Deutschland geflohen sind, ohne überhaupt Lohn zu bekommen.
„Slavery Footprint“: 60 Sklaven für den Durchschnittskonsum eines Deutschen
Der „Slavery Footprint“ rechnet aus, wie viele Sklaven für jeden von uns, genauer gesagt für unseren Konsum, arbeiten. In Ihrem Fall sind das 40 Sklaven, schreiben Sie. Was macht das mit Ihnen?
Ich liege damit zwar unter dem Durchschnitt in Deutschland, der bei 60 liegt, aber ich fühle mich in keiner Weise gut mit dem Ergebnis. Jeder Mensch in Sklaverei, der für meinen Konsum arbeiten muss, ist einer zu viel. Der Index zeigt, dass wir uns der modernen Sklaverei kaum entziehen können, ob wir wollen oder nicht.
Was können wir dann überhaupt tun, um Sklaverei zu bekämpfen?
Wichtig ist, dass wir ganz bewusst unseren persönlichen Konsum hinterfragen – ob es um Mode, Schokolade oder die Batterien in unseren Handys geht. Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich eine Bürgerbewegung gegen den Kolonialismus und die Sklaverei.
Immer mehr Menschen haben angefangen, Zucker aus der Karibik so lange zu meiden, bis die Menschen in Sklaverei befreit wurden. Die Abolitionistinnen und Abolitionisten entwickelten damit das bis heute stärkste Element einer Bürgerbewegung: den Boykott.
Kann ich das als Aufruf zum Boykott verstehen?
Genau das ist jedenfalls der Schlüssel, zu sagen: Nein, ich will keine Produkte, die Sklaverei fördern. Ich gucke mich um, ich frage nach, ich informiere mich. Der Handel reagiert darauf, aber eben nur darauf. Unsere Stimme als Gesellschaft hat Einfluss auf die Wirtschaft, genauso auf die Politik. Sklaverei kann beendet werden, wenn wir von den Verantwortungstragenden Veränderungen einfordern.
Die Infos zum Buch:
Dietmar Roller, Judith Stein: Ware Mensch, adeo, 232 S., 22 €