Essen. Vor 20 Jahren starb Vera Brühne. Die Essener Bürgermeister-Tochter saß zwei Jahrzehnte wegen Doppelmordes hinter Gittern – wohl ein Justizirrtum.

Blonde Locken. Lange Beine. Hochgewachsen. Männermordend. So wurde Vera Brühne, die „Frau im Leopardenmantel“, über Jahrzehnte durch Deutschlands Klatschmedien geschleift. Sie war die Tochter von Ludwig Kohlen, dem langjährigen und im Ruhrgebiet hoch angesehenen Bürgermeister im heutigen Essener Stadtteil Kray. Sie besuchte die Haushaltsschule, heiratete einen Schauspieler und später einen Filmkomponisten. Doch in die Geschichte ging sie, gemeinsam mit einem Freund aus Köln, als ruchlose Killerin ein. Ihre Opfer, so urteilte das Landgericht München: der Gynäkologe Dr. Otto Praun und seine Lebensgefährtin Elfriede Kloo. Der Tatort: Prauns Villa am Starnberger See. Die Tatwaffe: eine Pistole des Arztes, Typ „Baby Kaliber 6,35“. Die Tatzeit: der Gründonnerstag des Jahres 1960.

Heute ist zweifelhaft, dass die von Medien und vom Gericht erzählte Geschichte die Wahrheit wiedergibt. Zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod am 17. April 2001 im hohen Alter von 91 Jahren scheint es möglich, dass Vera Maria Brühne selbst Opfer wurde. Eines von Unfähigkeit in den Apparaten von Polizei und Justiz. Oder das einer Intrige.

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Aussagen und Indizien deuten darauf hin, dass die Todesschüsse auf Praun und Kloo auf das Konto eines geheimgehaltenen politischen Kriminalfalls gegangen sein könnten. Tatsächlich sah sich zehn Jahre nach der Tat einer der mächtigsten deutschen Politiker gezwungen, eine „eidesstattliche Erklärung zum Zwecke der Vorlage bei Gericht“ abzugeben. „Ich habe mit den Morden, begangen an Dr. Praun und seiner Wirtschafterin Frau Cloo, nicht das Geringste zu tun. Ich habe weder unmittelbar noch mittelbar etwas veranlaßt, was zum Tode der beiden geführt hat“. Geschrieben war der Text in „Bonn, 20. März 1970“. Unterschrieben hat ihn Franz Josef Strauß. Schreibt ein einflussreicher Staatsmann so was, ohne unter großem Druck zu stehen?

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Der Gärtner wundert sich über die Stille

Ostern 1960. Der Gärtner staunt über die Stille. Er wird doch sonst von Pitti, dem Hund, angebellt. Dabei steht Dr. Prauns Fahrzeug in der Villeneinfahrt. Auch ein Ehepaar, mit dem Arzt und seiner Lebensgefährtin befreundet, hat sich für Ostermontag angemeldet. Keiner öffnet die Tür. Die Freunde sind irritiert – genau wie am Dienstag nach den Festtagen Renate Meyer es gewesen sein will und Praun in der Münchner Praxis vermisst. Meyer ist seine Sprechstundenhilfe. Nach vergeblichen Anruf-Versuchen fährt sie mit ihrem Freund abends nach Pöcking. Nachschauen.

Vera Brühne und Otto Praun bei ihrem letzten Aufenthalt in Spanien, im Jahre 1959 im Restaurant Lido in Lloret de Mar an der Costa Brava.
Vera Brühne und Otto Praun bei ihrem letzten Aufenthalt in Spanien, im Jahre 1959 im Restaurant Lido in Lloret de Mar an der Costa Brava. © ullstein bild | Getty Images

Der Freund findet eine offene Terrassentür und im Flur eine Leiche mit blutigem Kopf: Dr. Praun. So telefoniert es das Paar bald der Polizei durch. In der gleichen Nacht untersuchen Ermittler die Villa. Der 65-Jährige liegt neben einem Heizkörper. Ein Loch in der Schläfe. Unter der rechten Hand eine Pistole. Die Polizei sichert Blut auf der Meter entfernt stehenden Couch. Im Keller findet sie eine zweite Leiche, die von Prauns Lebensgefährtin und/oder Haushälterin, Elfriede Kloo (49). Genickschuss. Die Fahnder glauben an „erweiterten Suizid“. Erst hat er sie erschossen, dann sich selbst.

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Die Akte wird geschlossen. Noch steht Vera Brühne nicht im Verdacht. Da entdeckt Prauns Sohn Günther Wochen später im Nachlass, dass diese Brühne, die der Vater nach außen ab und an als „Fahrerin“ beschäftigt haben will, das Ferienhaus in Lloret de Mar erben soll. Er ist empört. Er glaubt nicht mehr an einen Selbstmord. Er beantragt Exhumierung und Obduktion. Gerichtsmediziner entdecken einen zweiten Einschuss in Prauns Schädel. Kein Selbstmord mehr. Ein Doppelmord.

Gin es um eine Erbschaft?

Sprechstundenhilfe Meyer, die mit ihrem Freund den Toten entdeckte, hat die vermeintliche Chauffeuse nie gemocht. Der Arzt habe sich mit Brühne am Abend des Gründonnerstag in der Villa zu einem Gespräch treffen wollen, sagt sie aus. Thema: ein Verkauf der Spanien-Finca. Musste Vera Brühne um die Erbschaft bangen? Eine gefährdete Erbschaft gilt als Mord-Motiv. Brühne und ihr Bekannter Johann Ferbach aus Köln werden ein Jahr nach der Tat verhaftet. In den Etagen der Münchner Staatsanwälte bauen sich die Ankläger den Tatablauf zusammen. Am Gründonnerstag 1960, 19.45 Uhr, sei es passiert. Brühne klingelte bei Praun, stahl ihm die Pistole, übergab im Auto die Waffe dem Ferbach und der erschoss in der Kellerbar zunächst Elfriede Kloo und dann, im Flur, den Arzt.

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Brühne und Ferbach weisen jeden Verdacht zurück. Aber Vera Brühne verwickelt sich in Widersprüche, zeigt Erinnerungslücken, trägt wacklige Alibis vor und wird vor allem durch ihre Tochter Sylvia belastet, die offenbar unter dem Zureden eines Journalisten aussagt, die Mutter habe ihr gegenüber die Tat gestanden. Johann Ferbach hat in der U-Haft Kontakt zu einem Gauner namens Schramm, ein Polizeispitzel. Ferbach habe ihm beim Schachspiel gesagt, er habe Praun umgebracht, behauptet Schramm. Es kommt zum Prozess und 1962 zum Urteil: lebenslang für beide Angeklagte. Zwar hat da die Tochter die Aussage längst widerrufen. Aber das spielt für die Richter keine Rolle. „Ich bin doch unschuldig“, schluchzt die damals 52-jährige Brühne nach dem Schuldspruch. Bis zu ihrem Lebensende wird sie diesen Satz sagen.

Wer war Otto Praun wirklich? Der harmlose Onkel Doktor, der nur mit seiner Münchner Praxis Geld verdient hat? In den nächsten Jahren wird sich herausschälen, dass der Mann schon in der NS-Zeit als deutscher Abwehr-Agent unterwegs war und Kontakte zu ehemaligen Kollegen in der Nachkriegszeit hielt. In der jungen Bundesrepublik soll er als V-Mann in Waffenkäufe verwickelt gewesen sein. Häufiger ist er nach Nordafrika gereist. Er habe Ängste gehabt, hat Vera Brühne mitbekommen. „Der Brühne-Mord war Geheimdienst-Arbeit“, titelt die „Bild“-Zeitung anno 1969.

Rätselhafte Bestechungsgelder

1960, als der Pöckinger Kriminalfall geschah, hieß der Bonner Verteidigungsminister Franz Josef Strauß. Zweifelhafte Rüstungsprojekte waren da gelaufen, wie jenes mit dem unbrauchbaren Schützenpanzer HS 30. Offenbar sind große Summen Bestechungsgelder geflossen. Das hat der frühere Reichsminister Treviranus behauptet. Dem „Spiegel“ gegenüber outet sich ein Ex-Geheimdienstler im Januar 1968 als Geldbote: 2,3 Millionen habe er dem ehemaligen Referenten von Verteidigungsminister Strauß, Werner Repenning, zugeschleust, und weitere 300.000 D-Mark an Dr. Otto Praun übergeben. Der Plauderer, ein Belgier namens Roger Hentges, legt Monate später nach. Bei einer richterlichen Vernehmung erzählt er das Drama der Todesnacht von Pöcking neu. Er sagt, er war ganz nah dran.

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Am Abend des fraglichen Gründonnerstags und nach der vom Gericht angenommenen Tatzeit habe Praun ihn in seinem Frankfurter Lokal angerufen, was auch Hentges Frau bestätigt. Der Anrufer habe einen Nachschlag verlangt. Am frühen Karfreitag 1960 will der Belgier an der Haustür der Pöckinger Villa gewesen sein. Sie waren dorthin zu dritt gefahren, er als Geldbote, der Strauß-Referent Repenning und ein Dr. Schröder, der wohl nicht wirklich so hieß. „Dr. Praun musste damit rechnen, dass ich ihm nach allen Gesprächen vorher das von ihm angeforderte Geld überbringen werde“. Er, Hentges, sollte die Sache alleine erledigen, als die beiden Begleiter, die zunächst im Auto gewartet hatten, plötzlich hinter ihm auftauchten und Praun gleichzeitig seine Pistole zog. „Er schoss in die Richtung auf meine beiden Begleiter.“ Ungezielt sei dies gewesen. Dr. Schröder habe Praun die Waffe aus der Hand geschlagen. Da habe Repenning Hentges zurück zum Wagen geführt. Schröder sei später nachgekommen mit den Worten: „Dem habe ich aber Bescheid gesagt.“

Fabulierte sich Hentges in einen Mord hinein? Der Agent, Rüstungslobbyist, Wirt, Kioskbetreiber und Nougat-Hersteller war eine schillernde Figur. Staatenlos und in Kriegszeiten in Wirtschaftskriminelles verwickelt. Seine Netze, belegen zahlreiche Quellen, reichten bis in den Bundesnachrichtendienst.

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Dass die beiden Verurteilten die Täter sind, steht für bayerische Behörden und Gerichte in den Jahren nach dem Urteil wie in Beton gegossen. Im Rheinland und im Ruhrgebiet, der Heimat von Ferbach und Brühne, wachsen jedoch Zweifel. Kopf der Zweifler ist der renommierte Gelsenkirchener Anwalt Wilhelm Haddenhorst. Er vertritt Vera Brühnes Interessen während der Haftzeit. Ihm gelingt ein Coup. 1971 arbeitet er mit Gutachtern und weist durch ihre Hilfe nach, dass die im Urteil festgelegte Todeszeit Prauns – Gründonnerstag, 19.45 Uhr – falsch ist. Stunden, wenn nicht Tage muss sie nach korrekter Bewertung der Leichenstarre gelegen haben. Da war Brühne längst bei der Mutter in Köln. Die zentrale Stütze der Gerichtsentscheidung von München bricht weg. Noch etwas passiert: Das Landeskriminalamt Düsseldorf wird acht Jahre nach dem Mord im Zuge eines Wiederaufnahme-Antrags mit einem Gutachten beauftragt.

„Ich habe mit den Morden, begangen an Dr. Praun und seiner Wirtschafterin Frau Cloo, nicht das Geringste zu tun. Ich habe weder unmittelbar noch mittelbar etwas veranlaßt, was zum Tode der beiden geführt hat“. Geschrieben war der Text in „Bonn, 20. März 1970“. Unterschrieben hat ihn Franz Josef Strauß. Schreibt ein einflussreicher Staatsmann so was, ohne unter großem Druck zu stehen?
„Ich habe mit den Morden, begangen an Dr. Praun und seiner Wirtschafterin Frau Cloo, nicht das Geringste zu tun. Ich habe weder unmittelbar noch mittelbar etwas veranlaßt, was zum Tode der beiden geführt hat“. Geschrieben war der Text in „Bonn, 20. März 1970“. Unterschrieben hat ihn Franz Josef Strauß. Schreibt ein einflussreicher Staatsmann so was, ohne unter großem Druck zu stehen? © dpa | Heinz Wieseler

Die oberste NRW-Polizeibehörde legt am 4. Dezember 1968 erste Ergebnisse vor. Zeugen sind in der nahen Bundeshauptstadt Bonn vernommen worden. Nicht nur, dass die LKA-Leute die Glaubwürdigkeit der Sprechstundenhilfe und Kronzeugin Renate Meyer anzweifeln und ihr Täterwissen unterstellen – so habe sie gegenüber einer Zeugin schon vom Tod Kloos gesprochen, bevor die Polizei Meyer über den Fund der Leiche informiert hatte. Das LKA schreibt auch: „Bei den Ermittlungen verstärkte sich der Eindruck, dass es Kreise gibt, die wissen, dass zwei Menschen für eine Tat bestraft wurden, die sie nicht begangen haben. Diese Kreise kennen vermutlich auch den Täter und die wahren Zusammenhänge.“ Der „Schlüssel zur Tat“ könne in dem „Vorleben“ des Dr. Otto Praun liegen.

Brühne malte unter einem anderen Namen

Zu neuen Vernehmungen kommt es nicht. Sechs Wochen nach den LKA-Feststellungen, berichtet später die TV-Autorin Gaby Weber, muss das NRW-Landeskriminalamt Ende Januar 1969 die Akten an bayerische Kollegen abgeben. Dem Düsseldorfer Kriminalbeamten Hans Eberg wird die Aussagegenehmigung vor einem Münchner Gericht zu Prauns Waffengeschäften und Geheimdienstverquickungen verweigert.

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Acht Mal sind die Anträge der Anwälte von Brühne und Ferbach auf Wiederaufnahme gescheitert. Eine Urteils-Korrektur hat es nie gegeben. Als erstes Mitglied einer Bundesregierung vertrat Anfang der 1970er Jahre Kanzleramtschef und BND-Aufseher Horst Ehmke die Ansicht, Brühne und Ferbach seien unschuldig, eher könne „illegaler Waffenhandel“ der Hintergrund des Doppelmordes sein. Der ehemalige Strauß-Referent Werner Repenning verstarb kurz vor seiner Vernehmung in einem Untersuchungsausschuss des Bundestages, der sich mit der HS-30-Affäre befasste. Die Kronzeugin Renate Meyer starb 1968 unter nicht ganz geklärten Umständen. 1970 wurde Johann Ferbachs Tod in der Haft gemeldet.

Vera Brühne konnte 1979 ihre Zelle verlassen. Franz-Josef Strauß, da schon Bayerns Ministerpräsident, begnadigte sie überraschend. Brühne verlor das Interesse an der Aufklärung des Falles. Bis zu ihrem Tod im April 2001 beschäftigte sie sich unter dem Namen Maria Adam mit Malerei.

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