Bottrop. Bottrop in den 80er Jahren: Als die Klasse 7e es in die Hitparade und sogar in die Bravo schaffte… Wir haben die Akteure von damals aufgespürt.
Vor 40 Jahren. In München sorgt Rosie mit den Jungs von Spider Murphy für den „Skandal im Sperrbezirk“. Ösi-Sänger Falco rockt sich mit „Der Kommissar“ an die Chartspitze. Das deutsche Trio verweist mit „Da Da Da“ aufs Wesentliche, während ein gut gelaunter Markus nichts als Spaß möchte. Musikszene 1981. Und auch in Bottrop tummeln sich 29 Mädchen der Klasse 7e am Josef-Albers-Gymnasium mittendrin in der Deutschen Welle. Dank Deutschlehrer Werner Boschmann sind sie selbst die Stars.
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„Wir waren die letzte Mädelsklasse an der Schule“, erzählt Bettina Hartmann (51). Früher hatte sie eine lange, blonde Lockenmähne wie die britische Sängerin Kim Wilde. „Mein Schwarm.“ Wilde besang 1981 die „Kids in America.“ Hartmann hat den Pott sozusagen im Blut. Aufgewachsen in der Bergbausiedlung Welheim – zwischen der Boye und dem Rhein-Herne-Kanal im Südosten der kleineren Zechenstadt, Typ „woanders is’ auch scheiße“. Noch Mitte der 80er-Jahre besaß ein Drittel der Wohnungen kein Badezimmer, geheizt wurde mit Kohle.
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Samstag war Badetag – auch für die Autos
Der Opa hatte Tauben, ihr Vater auf Prosper Haniel malocht. Im Waschkeller stand die Zinkwanne. Samstags war Badetag, auch für Autos im spießigen Kleinbürger-Idyll im Schatten von Kohle und Koks. Junge Pauker wie Werner Boschmann waren damals selten. „Er machte tolle Projekte mit uns“, sagt Kerstin Kuhlmann (52), damals auch in der 7e. Das hat auch Kerstin Pospiech (51) nicht vergessen. Heute sind sich die drei Frauen einig: Highlights ihrer 1980er waren das Ruhrgebietswörterbuch sowie die Vinyl-Single „Jupp Pütta“. Mit „Anner Ruhr“ auf der B-Seite. Bis heute können sie die Texte, gedichtet in Pausen und im Unterricht. Echt töffte, watt willze mehr?
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Doppelseite in der „Bravo“
Bettina Hartmann nennt den YouTube-Link. „Jupp Pütter“ klingt nicht von ungefähr stark nach Jupiter, Fred. Sie trällert gleich mit. Damals sang sie das Solo im Song über Emschergott Jupp auf Erdentrip. Heimatliebe, 100 Prozent. Zeile: „Die schönste Stadt, die im Ruhrpott existiert ... Wo wat ambach is, noch richtich watt passiert ... Er pampt in einer Tour, will anne Ruhr, will anne Ruhr!“ Zunächst 2000 Platten in Eigenproduktion, Stückpreis zwei DM, fanden 1982 begeisterte Käufer auf dem Schulhof. „Als Beigabe zum Almanach. Das war unsere Schülerzeitung“, erinnert sich Kerstin Pospiech, früher Busch. Mit ihrem Hit traten die 29 Klassenkameradinnen als „Bottroper Hammerchor“ bald in ganz Deutschland auf. Sogar ins Fernsehen schafften es die pfiffigen Teenager in den RAG-Anzügen. Donnerlüttchen, in den „WWF-Club“ mit Désirée Nosbusch. Das Plattenlabel Hansa legte bald schon ein Release auf, und die „Bravo“ brachte am 15. Juli 1982 eine Doppelseite. Die Zeitung – jeden Donnerstag vor der Schule von der Bude – haben sie alle aufbewahrt. Im Artikel darf Klassensprecherin Silke das Projekt erläutern. Werner Boschmann grinst in Röhrenjeans vom Foto lässig von der Schulbank, ein sympathischer Blondie mit Mähne. „Niemand machte Vorschriften“ hebt die rote Zwischenzeile hervor. Bei Boschmann, da konnten sich alle ausprobieren.
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Kindheit und Jugend in Bottrop. Bettina Hartmann schwärmt. So viele sorglose Tage mit Freiheit. Sie denkt ans Spielen nach der Schule. Jeder kannte jeden in der Siedlung. Immer war da einer, der Zeit hatte. „Man ist einfach auf die Straße und hat sich getroffen. Bei Tante Grete haben alle im Garten gespielt. Sie hat uns sogar mit Bütterken versorgt.“ Nein, besser sei es früher nicht gewesen. „Doch das Miteinander war schöner.“
Nach der Penne ab zur Polente
Team-Work war dann auch bei einem weiteren Schulprojekt von Boschmann angesagt: „1000 Worte Bottropisch“, ein Lexikon der Alltagssprache des Ruhrgebiets. Bei Omma und Opa, Nachbarn und „Kumpel Anton“ (Serie in der damaligen WAZ) sammelte die 7e listenweise Ausdrücke. Den Ruhrpott-Slang hat Hartmann nicht verloren. Schluss mit der Penne nach dem Fachabi 1987 und ab zur Polente. Noch so ein Traum, den sie sich erfüllte. Der Vatter ihrer besten Freundin, Kerstin Busch, war Polizist und Bettis großes Vorbild. Heute ist Hartmann Kriminalhauptkommissarin in Gelsenkirchen. Dort hat der Strukturwandel tiefe Spuren hinterlassen. Einst wurde auch in der „Stadt der 1000 Feuer“ noch rund um die Uhr hart malocht. „Wie vielerorts stehen die Öfen still.“ Aus für Kohle, Stahl, Glas und Chemie. Das Sterben der Montanindustrie riss alle 13 Zechen Gelsenkirchens mit über 40 Schachtanlagen in den Tod. Das kostete rund 60.000 Arbeitsplätze.
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Seit Jahren wohnt Hartmann schon in Recklinghausen, am Revierrand. „Wech aussem Pott“ wollte sie nie. „Jupp Pütta“ sollte Recht behalten im Refrain: „Die Hauptsache is nur, bisse anner Ruhr.“ Kanal lief auch. „Mit der Mark fürs Freibad sind wir im Sommer an die Bude, Süßes kaufen. Schwimmen waren wir dann gratis anne Brücke.“ Gestern wie heute gefährlich. Aber üblich unter Blagen. Welches ihr das liebste von 1000 Wörtern ist, weiß keine der drei Frauen zu sagen.
„Sozi von Geburt“
Bottropisch ist wohl eher ein Gefühl, das mit datt und watt beginnt. Nach ein paar Tagen im Revier kommt das automatisch. „Die meisten Begriffe im Buch kenne ich seit Kindesbeinen, auch wenn heute nicht mehr alle verwendet werden.“ Der Pott hat sich gewandelt, vielleicht sogar sprachlich. Mit dem Bergbau sei ein Stück Heimat kaputt gegangen, meint auch Kerstin Kuhlmann, geborene Thelen. Wie Kerstin Pospiech lebt sie nach wie vor in Bottrop, wo Opa und Onkel auf Zeche einst waren. Nur ihr Vater hat Elektriker gelernt. Kerstin ging zur Stadtverwaltung, heute ist sie Sekretärin an einer Grundschule.
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„Den Kumpel von früher gibt es nicht mehr“, bedauert Bettina Hartmann. „Da war nicht nur die Arbeit, sondern Gemeinschaft. Woher einer mal gekommen war, interessierte keinen unter Tage. Rassismus gab es da nicht, man konnte sich aufeinander verlassen.“ Ali, Giovanni oder Jupp, die Zeche schweißte zusammen. „Schicht im Schacht“ sage sie bis heute zum Feierabend, so die Polizistin. Ihr Bottropisch brachte keine Nachteile, es öffnete im Job sogar Türen. „Die Leute merken, ob man echt ist, glaubwürdig und authentisch.“ Mit der Streife war sie zehn Jahre auf Tour. „Wer nicht die Sprache der Straße spricht, hat verloren.“ Wie beim Fußball. Da gebe es doch immer Gesprächsstoff. In Welheim pöhlte sie mit Jungs im Emscherpark, später beim Karnap 07 hinter der Essener Stadtgrenze. Heute schlägt ihr blau-weißes Herz für Schalke. Bei jedem Heimspiel ist die Beamtin vor Ort. Zu Corona ist sie eine von wenigen Zuschauern. Im Stadtrat von Marl engagiert sie sich nach Dienstschluss als Vorsitzende im Sozial- und Gesundheitsausschuss politisch und setzt sich für andere ein. „Sozi von Geburt“, nennt sie das.
Watt willze mehr? „Professor oder Penner labern so, wie ihnen das Maul gewachsen ist“, meint Werner Boschmann. Dem Revier-Sprech ist auch der 69-Jährige treu geblieben mit seinem Verlag „vonneruhr“, für „echte Kulturkniften“. Bottropisch, Essnerisch, Duisburgerisch, Oberhauserisch … die Sprachen all der Leute an der mittleren und unteren Ruhr ergeben das „Kohlenpottisch“. Alltagssprache hat man. Und um sie zu genießen, braucht’s die passende Umgebung: freitagsabend inne Kneipe, samstags auffem Markt oder sonntags im Stadion.
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