Duisburg. Corona und eine Netflix-Serie bescheren dem Schach den Boom seiner Geschichte – vor allem online. Plötzlich interessieren sich auch viele Frauen.
Ein Spielbrett, zwei Spieler, 64 Felder, zehn Septillionen Zugmöglichkeiten. Das ist Schach. Und Schach boomt wie lange nicht mehr. Das liegt am Lockdown, dem Internet, vor allem aber an einer Netflix-Serie. Doch ob das alles in Zukunft den Vereinen in unserer Region hilft, ist fraglich.
Das Damengambit. „Ja“, sagt der versierte Schachspieler im fortgeschrittenen Alter, „das ist eine häufig gespielte Schacheröffnung aus der Gruppe der Geschlossenen Spiele.“ Seine Kinder und Enkel können mit dem Begriff ebenfalls etwas anfangen, antworten allerdings: „Das ist die derzeit erfolgreichste Serie bei Netflix.“
Das ist sie tatsächlich. In weltweit 62 Millionen Haushalten soll die Geschichte des Waisenmädchens Beth Harmon (Anya Taylor-Joy), das zu einer professionellen Schachspielerin heranwächst und mit Suchtproblemen zu kämpfen hat, nach Angaben der Streaming-Plattform in den ersten vier Wochen gesehen worden sein.
Der Lockdown hat geholfen
Wobei diese Serie mehr ist, als nur erfolgreich. Sie hat dem Jahrhunderte alten „königlichen Spiel“ den vielleicht größten Boom seiner Geschichte beschert – in Deutschland wohl auch, weil sie kurz vor Beginn des zweiten Lockdowns veröffentlicht wurde. „Viele Menschen haben seitdem mehr Zeit und weniger Möglichkeiten, etwas zu machen“, bestätigt Jürgen Kaufeld, professioneller Schachspieler und -trainer aus Duisburg. „Da kommt Schach ganz gelegen.“ Vor allem im Netz.
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Noch nie sollen so viele Menschen auf Google nach Schach gesucht haben wie in den vergangenen Wochen. Und bei Youtube gibt es mehr Schach-Lern-Videos, als ein Mensch sich je ansehen kann. Doch es wird nicht nur online gelehrt, es wird auch gespielt im Internet. Schon zu Weihnachten meldete die Plattform „chess.com“ ihr fünfzigmillionstes Mitglied.
Zuschauerzahlen gehen durch die Decke
Auf der Streamingplattform Twitch, sonst bekannt vor allem für E-Sports-Spiele wie FIFA oder League Of Legends, gehen die Zuschauerzahlen von Schachpartien ebenfalls durch die Decke. Als sich einige der bekanntesten klassischen Video-Gamer dort am Brett versuchten, schauten zu Spitzenzeiten über 150.000 Zuschauer zeitgleich zu. Und Hikaru Nakamura, Weltranglistenerster im Blitzschach und fünffacher US-Meister, hat auf Twitch mittlerweile achtmal so viele Zuschauer wie vor der Corona-Pandemie. Was allerdings teilweise auch an Nakamura selbst liegt, der das Spiel nicht nur als Sport sieht, sondern zwecks Unterhaltung für die Zuschauer auch schon mal ohne Dame oder mit verbundenen Augen antritt und sich die Züge sagen lässt.
Bei dieser Euphorie wundert es nicht, dass der Wert der Firmengruppe von Weltmeister Magnus Carlsen derzeit auf rund 110 Millionen Euro geschätzt wird. Carlsen selbst hat die sogenannte Champions Chess Tour mit 1,5 Millionen Dollar Preisgeld organisiert, deren Begegnungen sogar bei Eurosport übertragen wurden. Hätte man vor ein paar Jahren noch für einen Aprilscherz gehalten.
Doch auch im echten Leben ist die Lust auf Schach derzeit groß. „Die Nachfrage ist enorm“, bestätigt Christoph Kamp, Inhaber der Firma Niggemann (www.schachversand.de) in Münster, dem nach eigenen Angaben europaweit größten Schachversand. Seit November vergangenen Jahres – also kurz nach Erstausstrahlung der Serie – verkaufe er zehn Mal so viele Bretter und Figuren wie üblich zu dieser Jahreszeit. Letztere übrigens meist aus Holz, was Vereine und Schulen als Kunden eher ausschließt. „Die nehmen lieber Kunststoff, weil er haltbarer ist.“
Immer mehr Frauen sind interessiert
Bei der privaten Kundschaft dagegen spielt das Auge oft mit. „Bei vielen soll es so aussehen wie in der Serie.“ Auch deshalb sind die im Damengambit immer wieder gezeigten mechanischen Schachuhren der absolute Renner. „Dabei werden die heute längst nicht mehr genutzt“, sagt Kamp. Und deshalb kaum noch hergestellt. „Mittlerweile sind sie schwierig zu bekommen.“ Anders als Schachliteratur. Rund 6000 Titel kann der Schachversender besorgen, „meistens wird aber etwas für Anfänger bestellt“.
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Wer nicht lesen will, will offenbar hören und geht derzeit gerne zu einem Personal-Schachtrainer. Jürgen Kaufeld spricht von „vielen Anfragen“ und zahlreichen neuen Schülern, die er derzeit online unterrichtet. „Die einen haben vor Jahren mal Schach gespielt, andere zuvor noch nie vor einem Brett gesessen“, bestätigt er eine Erfahrung, die auch Christoph Kamp nach vielen Telefonaten mit Kunden gemacht hat. Und hier wie da sind es mehr Frauen als üblich, die sich plötzlich für Schach interessieren.
Schach-Clubs profitieren kaum
Das alles sind Dinge, die Ralf Chadt-Rausch, Präsident des Schachverbandes Ruhrgebiet gerne hört. Sie kommen nur zur falschen Zeit. „Der Boom ist da“, hat auch er festgestellt. Aber die Schach-Clubs im Revier haben derzeit nichts davon. „Spielstätten geschlossen, Turniere abgesagt, das Vereinsleben liegt ja seit fast einem Jahr völlig brach“, sagt der Präsident und glaubt nicht an eine schnelle Besserung der Lage. Spiele in geschlossenen Räumen, ohne dass dabei an den Schachbrettern der Mindestabstand eingehalten werden kann, machen die Sache nicht einfacher. „Vereine, die draußen Sport machen, werden schneller wieder weitermachen können.“
Und das Internet? „Eine Komponente, die man mit einbauen kann“, findet Chadt-Rausch. Aber kein Ersatz. Klar gebe es Vereinsspieler, die jetzt mal ins Netz ausweichen würden, „aber viele Ältere kriegen sie da nicht hin“. Keine Gespräche, kein gemeinsames Bierchen nach dem Spiel. „Internet ist anders.“
Das sehen sowohl Kaufeld als auch Kamp ganz ähnlich – gerade bei Turnieren. „Die Atmosphäre fehlt“, sagt der Trainer. „Keine Mimik, keine Körperhaltung, die man sehen kann“, ergänzt der Chef des Schachversenders, „dabei können erfahrene Spieler gerade daraus viel erkennen.“
Hoffnung, dass der Trend Corona überlebt
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Wie fast alle Vereinsspieler sehnen sie sich dann auch nach der Rückkehr zur Normalität. Online werde auch dann weiterhin gespielt, glauben beide. „Aber vielleicht bleiben auch im echten Leben ein paar mehr Menschen dabei“, hofft Kaufeld. Bei vielen seiner neuen Schüler ist die Wahrscheinlichkeit offenbar hoch. „Die meisten sagen, dass es ihnen gut gefällt. Ob das allerdings reicht, um in einen Verein einzutreten, ist eine ganz andere Frage.“
Ob online, im Verein oder zu Hause am Wohnzimmertisch: „Eins ist immer gleich“, sagt Kamp, „beim Schach gibt es keinen Zufall und kein Glück. Wer hier gewinnt, der war einfach der Bessere.“ Und genau das, glaubt er, „macht Schach für viele Menschen so faszinierend“.
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