Solingen. Ein junger Rheinländer sitzt 9 Monate in amerikanischen Provinzgefängnissen ein. US-Ermittler fürchten, er sei Terrorist. Doch er ist unschuldig.
Ein Schießstand der Polizei in Oklahoma City, USA. Es ist der 27. Januar 2010. „Kommen Sie bitte mit, wir haben da einige Fragen“. Drei Herren in Zivil bauen sich vor dem Deutschiraner aus dem Rheinland auf. „Sind Sie bewaffnet?“. „Ja, meine FX-Pistole“. „Bitte ablegen. Haben Sie sonst noch was. Blendgranaten? Maschinenpistole?“ Und dann die Ansage: „Herr Golchehr, wir glauben, Sie sind nicht der, der Sie vorgeben zu sein. Sie sind festgenommen!“
Maziar Golchehr, heute 38, kann weder diese Szene noch die Ansage vergessen. Er hat in der Folge neun Monate in strengster Haft verbringen müssen, in unterschiedlichen Gefängnissen, teilweise in Isolation. Er wurde nach eigenen Angaben in versiffte Zellen gesperrt, ihm wurde das karge Essen gestrichen oder auf den Boden gekippt, er bekam bei einer Vernehmung „so etwas wie einen Stromschlag in den Nacken“. Er hat in diesen Monaten 50 Kilo abgenommen. Die Verdachtsmomente, die amerikanischen Strafverfolger gegen ihn äußerten: Terrorismus, illegaler Besitz von Waffen und Munition, das unberechtigte Tragen einer Polizeiuniform. Auch habe er fälschlicherweise behauptet, in Deutschland Mitglied der Eliteeinheit GSG 9 gewesen zu sein.
„Ich habe die Welt nicht mehr verstanden“
Elf Straftatbestände waren es insgesamt. Ein Albtraum, wenn man sich gänzlich unschuldig fühlt. Wie ihm das alles passieren konnte, fragt er sich heute noch. „Ich habe die Welt nicht mehr verstanden“. Wir sitzen in einem Büro in Solingen, wo Marzian Golchehr seine Geschichte erzählt. An der Wand hängen Fotos mit schönen Erinnerungen. Maziar mit nordrhein-westfälischen SEK-Beamten. Maziar mit Kameraden der Bundeswehr. Maziar mit Freunden bei der GSG-9, auch wenn er nie selbst Bundespolizist war.
Der Deutschiraner berät heute die Sicherheitsbranche. Es ist ein eigener Kosmos, auch seiner, und Abenteuer haben immer seinen Lebensweg begleitet. 1982 geboren, war er drei Jahre alt, als die Familie vor dem Mullah-Regime und dem iranisch-irakischen Krieg aus Iran floh. Istanbul. Ost-Berlin. Das waren die Stationen, bevor sie Dinslaken erreichte und ihre kleine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus. Später wurde Köln seine Heimat. „Kölle“, wie er sagt. Er liebt die Domstadt und das Land, das ihn aufnahm und „die gute alte Deutsche Mark. Wie ich sie vermisse“.
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Gerade hat er in seinem Buch „Verschlusssache. Vom Staatsdiener zum Staatsfeind“ die eigene Vergangenheit aufgearbeitet. In der Wortwahl stellenweise gewöhnungsbedürftig zornig, schildert er Emigration und das Leben in der Kölner Vorstadt, die wechselnden Familienverhältnisse und seinen Hang, sich in die unmöglichsten Lebenslagen hinein zu manövrieren – bis zum Debakel in Amerika. Nach Abschluss der Schule hatte er sich zur Bundeswehr gemeldet, wurde Unteroffizier, lernte – mit ersten Einsätzen in Oberhausens Arena – Selbstverteidigung, arbeitete im Justizdienst und schob Schicht im Klingelpütz (JVA in Köln). Er lehrte in einer privaten Sicherheitsfirma als Schießausbilder Polizisten im Umgang mit der Waffe und bekam eines Tages beim Bier den freundschaftlichen Rat: Versuch es doch mal in den Staaten! So bewarb er sich beim Oklahoma City Police Department um ein Praktikum.
Vom Traum zum Albtraum
Die Zusage kommt 2009. Er fliegt im Dezember. Ein Traum scheint wahr zu werden. Doch diese Reise wird zum Albtraum. Es stellt sich heraus, dass die Ordnungshüter des US-Bundesstaates in ihm weniger den Praktikanten sehen als eine Verstärkung. Sein Chef, auf dessen Ranch Golchehr wohnen darf, schenkt ihm Weihnachten eine „Glock“-Pistole und Golchehr revanchiert sich mit einem Messer, das er von Leuten eines Spezialeinsatzkommandos der NRW-Polizei geschenkt bekommen hatte. Der Chef fordert ihn auf, die Waffe zu laden, die Weste mit der reflektierenden Schrift „Police“ überzustreifen und vereidigt ihn „auf Basis eines sehr alten Gesetzes zum Deputy Officer“.
Mal rücken sie wegen Ruhestörung aus, mal ins Strip-Lokal, mal reagieren sie auf einen Notruf. Ein Auto auf der Landstraße, darin ein Toter. Mord? Selbstmord? „Wir stiegen aus, leuchteten rein. Der Typ, der im Fahrzeug saß, hatte sein ganzes Hirn über die Scheibe verteilt“. Ein armer Kirchenräuber flüchtet im Pick-Up, zerlegt das Auto in der Böschung und liegt eingeklemmt und sterbend unter der umgekippten Karosserie. Hilfe durch das Polizei-Team? Fehlanzeige, erinnert sich Golchehr. Der Kollege habe „Shit happens“ gesagt.
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Sein Einsatz ist völlig illegal
Er steckt mitten im Geschehen. Nur: Er ist Praktikant. Er dürfte weder Waffen noch Uniform tragen. Doch das tut er. Sein Einsatz ist völlig illegal. Aber, jetzt ist der Abenteurer in Golchehr herauszuhören: Er, ein junger Kerl damals, habe es als spannend empfunden. Die Rechtswidrigkeit? War ihm nicht klar. „Ich konnte nicht Nein sagen“. Es wird gefeiert. Sie ziehen um die Häuser. Bei irgendeinem Plausch läuft es schief. Golchehr vergleicht deutsche und amerikanische Spezialeinheiten. Die deutschen hält er „für Chirurgen“, die amerikanischen für „Metzger“. Es gibt Streit. Die GSG 9 zu Hause würde die amerikanischen Kollegen problemlos aufmischen, sagt er. Golchehr liebt lockere Sprache. Diesmal vielleicht ein paar Worte zu viel.
Waren solche Reibereien, Missverständnisse und Rivalitäten der Anlass, ihm Verstöße zu unterstellen? Wird er deswegen in einer offiziellen FBI-Anklage vom 17. Februar 2010 des illegalen Besitzes einer Feuerwaffe und von Munition angeklagt und mit zehn Jahren Haft bedroht? Oder hat das FBI ihn längst als möglichen Terroristen im Visier, wie ihm sein Pflichtverteidiger offenbart? 2001 hatten aus Hamburg eingereiste Attentäter von El Kaida die New Yorker Twin Towers mit gekaperten Jets zerstört. Möglich, dass der junge Deutschiraner in den Jahren nach 9/11 zum zeitweisen Kollateralschaden der Jagd auf islamistische Terroristen geworden ist.
Tatsächlich addieren US-Ermittler im Zusammenhang mit Golchehrs Auftauchen Auffälligkeiten, wie der Beschuldigte in Vernehmungen heraushören kann. Der Mann sagt, er ist Deutscher, aber er ist im Iran geboren. Der „Iraner“ zieht mit der Polizei von Oklahoma City auf Streife. Will er eine Straftat vorbereiten? Er soll eine Moschee besucht haben, was sich als Verwechselung herausstellt. Im beschlagnahmten Fotoapparat, den er für den Amerika-Trip von einem Freund geliehen hatte, befindet sich ein vom Freund aufgenommenes Foto eines Jeeps der US-Armee. War, in Deutschland noch, ein Anschlag auf GIs geplant? Was Golchehr nicht ahnt: Zwei Tage nach seiner Einreise Ende 2009 hat ein von El Kaida ausgebildeter „Unterhosenbomber“ ein Attentat auf Flug Northwest 253 Amsterdam-Detroit versucht. Es scheiterte, der Airbus konnte landen. Aber die Nerven in den USA liegen seither blank.
Das perfekte Feindbild
Die haben geglaubt, sie haben einen Superterroristen“, erinnert sich Golchehr, „und ich war Iraner, das perfekte Feindbild“. Dabei: „Sie hatten alle Unterlagen über mich. Sie haben mir selbst die Uniform gegeben, die Maschinenpistole in die Hand gedrückt und mich in den Einsatz geschickt.“
Ein Deutscher in US-Haft, ein Terrorist zumal? Die Zeitung „Oklahoman“ und lokale Radiosender haben über ihn berichtet. So etwas führt auch zu Schlagzeilen zu Hause, eigentlich. Wie die über den Bremer Murat Kurnaz, der vier Jahre unschuldig im Lager Guantanamo einsaß, bevor er nach Deutschland zurück durfte. Denn amerikanische Strafverfolgung ist robuster, amerikanische Haftanstalten sind ungleich härtere Orte als die deutschen. Der brisante Terror-Vorwurf kommt dazu. Stoff genug für Berichterstattung. Doch anders als in Sachen Kurnaz oder auch des Diplomatensohns Jens Söring, der 33 Haftjahre wegen Doppelmordes in Virginia verbrachte, haben deutsche Medien über den Rheinländer Golchehr keinen Satz verloren. Sie haben davon nie erfahren. Anders als Sicherheitskreise in Deutschland, sagt er heute.
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Im Gefängnis von Oklahoma, ein Dutzend Stockwerke hoher Bau, und später im Bundesgefängnis lebt er in der Nachbarschaft zu den Neuzeit-Al Capones von Amerika. Randy gehört dazu, „kreidebleich“, hat drei Menschen ermordet, ein Todeskandidat. Da ist ein mexikanischer Mafiakiller und noch jemand, dem sie 99 Vergewaltigungen vorwerfen. Für ihn hingegen hätte es anders kommen müssen, meint Maziar Golchehr. Doch die Amerikaner haben eine Nachrichtensperre über seinen Fall verhängt. Briefe, sagt er, seien abgefangen worden. Und er kreidet dem deutschen Konsulat in Houston an, die Fürsorgepflicht gegenüber einem inhaftierten deutschen Staatsbürger verletzt zu haben. „Sie haben mich im Stich gelassen“. Ein Besuch in der Haft? Habe es nie gegeben. Die Bitte um einen Kleinkredit, damit er sich im Gefängnis bessere Nahrung kaufen konnte, anderswo üblich? Sei ohne Antwort geblieben. Er weiß bis heute nicht, was hinter den Kulissen lief, was das Bundeskriminalamt, das den Vater informiert hat, oder der Bundesnachrichtendienst in der Causa Golchehr getan haben – oder eben nicht.
Albträume vom elektrischen Stuhl
Im Sommer 2010 steht Maziar Golchehr vor dem Bundesrichter Josef Heaton. Ein erzkonservativer, harter Knochen, hat Golchehr vorab gehört. Im Knast hat er schon albgeträumt, wie Stromstöße auf dem elektrischen Stuhl sein Gehirn zerkochen. Doch jetzt funktioniert der amerikanische Rechtsstaat. Der hohe Richter fegt alle Vorwürfe vom Tisch. Heaton habe den anwesenden Polizeichefs einen „Einlauf“ gegeben. „Es ist eine Schande, wie ihr diesen jungen Mann vorführt, ihn monatelang im Gefängnis verrotten lasst“, zitiert ihn der einstige Angeklagte. Der Bundesrichter stellt das Verfahren ein. Maziar Golchehr darf nach Hause ins Rheinland. Am 10. September 2010 landet er in Frankfurt. Kaum aus dem Jet fällt er auf die Knie, „macht auf Papst“ und küsst deutschen Boden.
Menschen, die unschuldig hinter Gitter gesessen haben, haben den Anspruch auf Haftentschädigung. In Deutschland sind das 75 Euro pro angefangenem Tag. Hat er je eine solche Entschädigung von der Regierung der Vereinigten Staaten verlangt. Plant er das etwa noch? Dafür müsste er nach Amerika zurück, sagt er. Das will er auf keinen Fall.
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