Essen. Seit 15 Jahren finden Familien mit schwerkranken Kindern im Ronald McDonald Haus in Essen ein Zuhause auf Zeit. Ein bewegender Besuch.
Im Flur des Ronald McDonald Hauses ertönt die große Glocke. Eine ganz besondere. Sie ist golden und wird von Hand geläutet. Immer dann, wenn einer der jungen Patienten die Einrichtung nach der letzten Therapiesitzung verlassen darf. Sabine Holtkamp, Leiterin des Gästehauses, wünscht der Familie alles Gute. Ein herzlicher Abschied nach langen Wochen mit Bangen und Hoffen und ein kleines Happy End. Unterm Sternenzelt 1, wo der Himmel bei der Adresse Pate stand, liegt das bunte Gebäude wie ein Märchenschloss in einem Zaubergarten am Rande der Essener Gruga. 2005 nach Plänen des Künstlers Friedensreich Hundertwasser errichtet, der da schon fünf Jahre tot war.
Niederschmetternde Diagnose
Das erste Novemberwochenende 2019 wird Joachim Büchold nie mehr vergessen. Ella, seine ältere Tochter, damals 3 Jahre, bekommt Lähmungserscheinungen. Die Kleine zieht das linke Bein hinterher und bewegt den linken Arm irgendwie anders als sonst. Ein Mundwinkel hängt herunter. „Beim Abendessen trank sie Wasser. Das ist an der Seite wieder herausgelaufen“, berichtet der 38-Jährige. Da haben er und seine Frau Christina (30) den Notfall realisiert. Das Kind brauchte dringend ärztliche Hilfe. Die Beschwerden hatten am Samstag schleichend angefangen, die Eltern wollten abwarten. Doch dann musste es schnell gehen. „Wenn wir Glück haben, hatte Ella einen Schlaganfall“, habe seine Frau gesagt. „Christina ahnte plötzlich Schlimmes.“
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Noch am Abend des 3. November 2019 wird die blonde Ella – ein ruhiges Mädchen mit großem Wissensdurst – in der Kindernotaufnahme der Würzburger Uniklinik untersucht. Das MRT offenbart der fränkischen Familie niederschmetternde Fakten: In Ellas Gehirn war eine Geschwulst von zehn Zentimetern Durchmesser gewachsen. Bis heute wundern sich die Bücholds, dass Ella solang ohne Symptome geblieben war. Stets fröhlich und aufgeweckt im Kindergarten, hielt das ehemalige Frühchen längst unter Gleichaltrigen mit.
4000 Schicksale
Der 5. November 2019 ist wieder so ein Tag, tief eingebrannt ins Gedächtnis der Bücholds. Ella wird in Würzburg notoperiert. Elf Stunden, von einem exzellenten Chirurgen. Der Arzt warnt vor bleibenden Schäden, die zum Glück nicht eintraten. Gleich nach der Narkose steht Ella aufrecht im Bett. Für die Eltern ein Wunder. Bis zum nächsten Schock am 11. November, als das Ergebnis der Biopsie vorliegt. Der Tumor sei hochgradig bösartig und schlecht behandelbar, sagen die Ärzte. Sie nennen den Feind beim Namen: ETMR (= Embryonale Tumoren mit mehrschichtigen Rosetten). „Das gibt es pro Jahr nur zehnmal in Deutschland, weltweit zählt man jährlich etwa 100 Fälle.“ Offen über diese Diagnose zu sprechen, fällt dem Vater schwer. „Aber vielleicht kann ich so anderen Eltern helfen, weil die Krankheit so selten ist“, hofft er.
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Das Gästebuch im roten Samtumschlag erinnert an viele Schicksale aus 15 Jahren. Seit der Eröffnung waren 4000 Familien in den 17 gemütlichen Appartements zu Gast – aus Deutschland und der ganzen Welt, wie Sabine Holtkamp (53) berichtet. Ihr Team aus Haupt- und Ehrenamtlichen, Paten und Spendern, sorgt dafür, dass sich schwer kranke Kinder und ihre Eltern in dem hoffnungsvoll-bunten Gebäude so wohl wie irgend möglich fühlen. Stets offene Ohren und engagierte Menschen mit jeder Menge Herz, die wissen, wie man an dunkelsten Tagen Trost spendet, sind da inklusive.
„Wir werden es schaffen!“, hat Joachim Büchold gesagt, als Ella ihm die eine große Frage stellte. „Papa, muss ich sterben?“ Drei OPs, zuletzt am 6. Juli 2020. Noch vor Weihnachten war die erste Chemotherapie gestartet. Dem hübschen Mädchen fielen die Haare aus. „Sie reichte mir eines Tages ihre Haarspange, die nicht mehr am Kopf hielt.“ Die brauche sie jetzt nicht mehr. Dass Kinder sterben, hat Ella in Würzburg hautnah miterlebt. Am Krebs oder an den aggressiven Medikamenten, die den kleinen Körpern arg zusetzten. Schwarz-Weiß-Fotos erinnerten auf dem Stationsflur an die tapferen, jungen Patienten. Hatten sie nicht eigentlich noch das ganze Leben vor sich?
Der Chef unterstützt die Familie sehr
Wenigstens finanziell müssen sich die Bücholds keine Sorgen machen. Seit bald elf Monaten ist Joachim von der Arbeit in der Fabrik im rund 400 Kilometer entfernten Rothenburg ob der Tauber freigestellt. Der Produktionsleiter hat einen großartigen Chef. „Er zeigte sofort Verständnis und wollte, dass wir finanziell keine Einbußen haben.“ Die Krankenkasse zahlt einen Ausgleich für die Betreuung von Lina, Ellas einjähriger Schwester. Den Rest schießt Bücholds Arbeitgeber dazu. „So haben wir praktisch mein normales Gehalt.“
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Lina spielt im Ronald McDonald Haus mit anderen Geschwistern, wenn es Ella schlecht geht, oder sie wieder einmal behandelt wird. Die quirlige Jüngere genießt die Spaziergänge durch die Gruga. „Dass wir als Familie alle zusammen sein können, ist eine echte Erleichterung“, betont Christina Büchold. Sie hat Ella bei unserem Besuch zu einer von 30 Bestrahlungen in der Essener Uniklinik begleitet. Von neun bis 12 Uhr waren Mutter und Tochter im Westdeutschen Protonentherapiezentrum, fünf Minuten vom Appartement.
Bei der Rückkehr von der Therapie sitzt Ella blass und sichtlich müde von der Narkose im senfgelben Glitzerrock im grauen Buggy. Fest im Arm hält sie Coco, eine Stoffpuppe mit blonden Zöpfen und einem mitreißenden Grinsen. Die Spielgefährtin hat lange Schlenkerarme zum Reinschlüpfen. „Coco weiß mehr als wir“, sagt Joachim Büchold. Die Puppe teilt die Sorgen des Mädchens und spendet Mut. Und Kraft: Keine zehn Minuten später dreht Ella ein paar schnelle Runden auf dem Laufrad.
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Mit ernstem Gesicht umkreist sie den märchenhaften Brunnen in der Mitte des Innenhofes. Der könnte gut in einem fränkischen Dorf stehen. In die Heimat will Familie Büchold Ende September zurückkehren. Bis dahin soll Ella noch achtmal bestrahlt werden. Dann will auch sie die Glocke läuten. Am liebsten ganz laut!
Ein Zuhause auf zeit
Das Ronald Mc Donald Haus in Essen ist eine von deutschlandweit 22 Einrichtungen der gleichnamigen Stiftung. Seit der Eröffnung 2005 fanden dort 4000 Familien ein Heim auf Zeit – über 250 im Jahr. Die Kosten übernehmen zu einem Viertel die Krankenkassen. Der Rest wird über Spenden von Firmen und Privatleuten finanziert.
Im Haus der Ronald McDonald’s Kinderhilfe in Essen wohnen Kinder von unter einem bis zu 17 Jahren, die im Uniklinikum ambulant behandelt werden. Für die Therapiedauer bietet das architektonisch einzigartige Gebäude auch ihren Eltern und Geschwistern ein Zuhause. Drei Gruppen zählen zu den Bewohnern aus aller Welt: Frühchen und Kinder, die eine Organtransplantation benötigen sowie Krebspatienten. Sie werden im 2013 eröffneten Westdeutschen Protonentherapiezentrum (WPE) versorgt. Im Durchschnitt bleiben die Familien einen Monat in den Apartments. Mehr: mcdonalds-kinderhilfe.org
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