Mülheim. Noah (8) leidet unter einem seltenen Gendefekt: dem okulären Albinismus. Seine Augen sind empfindlich, die Sicht eingeschränkt. Ein Hausbesuch.

Quirlig ist Noah – es hält ihn kaum auf seinem Stuhl. Flink krabbelt der Achtjährige unter dem Esstisch hervor, huscht in sein Zimmer und nistet sich wenige Momente später wieder neben seiner Mutter ein. Mit der einen Hand wischt er sich die blonden Haare aus dem Gesicht, mit der anderen streichelt er seinem Vater über den Arm. Wohl unterbewusst sucht Noah immer wieder den Körperkontakt zu seinen Eltern, will ihre Nähe spüren, die Sicherheit.

Gerade einmal acht Wochen ist der kleine Noah alt, als seine Eltern ihn zum Kinderarzt bringen, eigentlich wegen eines Schnupfens. Doch dem Arzt bereitet etwas anderes Sorgen: Noahs Augen zittern, verweilen kaum. „Natürlich war uns das schon aufgefallen. Wir dachten aber, das geht vorbei“, erinnert sich Christian Wötzel (42).

„Noah ist ein Energiebündel, das war schon immer so.“ – Da sind sich Papa Christian (42) und Mama Carolin (39) einig.
„Noah ist ein Energiebündel, das war schon immer so.“ – Da sind sich Papa Christian (42) und Mama Carolin (39) einig. © FUNKE Foto Services | Kai Kitschenberg

„Was für ein Leben wird mein Kind führen?“

Es ging nicht vorbei. Bald kam die Diagnose: okulärer Albinismus. In Noahs Netzhaut und Iris sind kaum Pigmente vorhanden, die Augen wandern stets umher, um sich vor Lichteinfall zu schützen. Die Sehkraft ist stark eingeschränkt, mit sechs Monaten bekommt Noah seine erste Brille. „Man malt sich erstmal das Schlimmste aus“, erzählt Carolin Wötzel (39). „Was für ein Leben wird mein Kind führen?“

Zum Lesen ist Noah auf ein Vergrößerungsgerät angewiesen.
Zum Lesen ist Noah auf ein Vergrößerungsgerät angewiesen. © FUNKE Foto Services | Kai Kitschenberg

Noahs Kinderzimmer sieht aus, wie ein typisches Jungs-Zimmer eben aussieht: Der Teppich mit dem Straßennetz, auf dem Noah so gerne spielt. Das Regal voller Bücher, Feuerwehrautos und anderem Krimskrams. Der Schreibtisch mit dem ausrangierten Rechner vom Opa. „Das da ist mein Vergrößerungsgerät“, ruft Noah und zeigt auf eine Mischung aus Bildschirm und Kamera, die noch Platz auf dem vollgepackten Tisch gefunden hat. Das Energiebündel flitzt zum Regal und legt ein Buch unter die Kamera. Ein paar Knopfdrücke später erscheinen die Buchstaben im Großformat auf dem Bildschirm. Noah bewegt das Buch, schaut sich die Zeichnungen genau an, liest still.

Schulstart: Die Klasse zu groß, die Zeit zu knapp

„Seine Sehkraft liegt bei zehn bis 20 Prozent. Ganz genau lässt sich das nicht sagen“, erklärt Carolin Wötzel. Die blaue Brille, die auf Noahs Nase sitzt und die blonden Haarspitzen kitzelt, hilft zwar, schafft aber keine Abhilfe. Deswegen ist Noah auf das Vergrößerungsgerät angewiesen, auch in der Schule. Eingeschult wurde Noah in einer Mülheimer Regelgrundschule, ganz im Sinne der Inklusion. „Die Lehrer waren auch wirklich engagiert“, berichtet Christian Wötzel. Das allein reichte nicht. Mit 28 Mitschülern war die Klasse zu groß und die Zeit der Lehrer zu knapp.

Mittlerweile besucht Noah eine Schule für sehbehinderte und blinde Kinder in Duisburg. In der kleinen Klasse kommt er sogar ohne einen Integrationshelfer zurecht. Macht die Schule Spaß? Noah neigt den Kopf, überlegt kurz. Ein Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. „Ja! Nur Deutsch nicht.“

Konkrete Angaben zu der Erkrankung gibt es kaum

Schlimmer als der Deutschunterricht ist scheinbar nur noch die Krankengymnastik. „Nervig“, meint Noah. Und doch geht es nicht ohne. Krankengymnastik und Ergotherapie – das eingeschränkte Sehvermögen hat Folgen. „Noah hält den Kopf oft schräg, das wirkt sich auf die Muskulatur aus“, erklärt Christian Wötzel.

Mit sechs Monaten bekommt Noah seine erste Brille.
Mit sechs Monaten bekommt Noah seine erste Brille. © Familie WötzeL

Das stellte sich erst über die Jahre heraus, wie so vieles anderes auch. „Es gibt kaum konkrete Angaben zum okulären Albinismus, die meisten Infos haben wir uns selbst zusammengesucht“, sagt Carolin Wötzel. Müßig, genau wie diese Bürokratie. Mehr als nur einige Male sind die Wötzels an ihr verzweifelt. Etwa bei Noahs Brille. Mit mehr als neun Dioptrien wären die Gläser ungeschliffen sehr dick und unpraktisch gewesen, eigentlich untragbar. „Zum Glück hatten wir eine tolle Optikerin, die sich für uns eingesetzt hat.“ Nachdem die Fachfrau der Krankenkasse die ungeschliffenen Gläser zuschickte, kamen das Verständnis und die Kostenübernahme für die geschliffenen Brillengläser.

Noahs Netzhaut hat keinen natürlichen Sonnenschutz

So wie Noah im Alltag nicht auf seine Brille verzichten kann, kann er bei Sonnenschein nicht auf seine Sonnenbrille verzichten. Durch den okulären Albinismus ist seine Netzhaut nur sehr schwach pigmentiert, quasi ohne ihren natürlichen Sonnenschutz. „Wenn die Sonne reinscheint, tut das weh“, erzählt Noah. Mit einer Sonnenbrille – im Urlaub darf’s auch noch ein Sonnenhut dazu sein – geht es dann.

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Was geht denn nicht? Klappt auch Fahrrad fahren? „Klar, ich fahre richtig gerne Fahrrad“, sagt Noah. „Wir üben noch“, antwortet der Papa schmunzelnd. „Du kannst Fahrrad fahren, aber schnell reagieren ist manchmal doch schwierig.“ Der Körper und Geist wollen machen, die Augen spielen nicht mit. Etwa damals, als Noah im Freizeitpark vor eine metallene Mülltonne rannte, die im Sonnenlicht reflektierte. „Wir haben noch gerufen, aber manchmal will Noah uns gar nicht hören, glaube ich“, neckt die Mama. Noah grinst schelmisch.

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