Duisburg. Anja Gerlmaier verlor nach einem Autounfall ihr Augenlicht. Die blinde Psychologin hat ihre Einstellung behalten: Das Glas ist mehr als halbvoll.

Anja Gerlmaier hatte vor zwölf Jahren einen Autounfall. Sie war so froh, ihn überlebt zu haben. Aber die Schmerzmittel, die sie in der Klinik bekam, führten zu einem Sauerstoffmangel im Auge, weil ihre Netzhaut nicht in Ordnung war. Nach und nach verlor sie ihre Sehkraft. Seit sieben Jahren ist sie vollkommen blind. Die 48-Jährige sagt heute: „Ich empfinde mich nicht als blind. Ich bin Wissenschaftlerin, ich bin Mutter, ich bin eine nette Freundin. . . Von den fünfzig Attributen, die mich beschreiben, ist vielleicht das fünfzigste, blind zu sein.“

Die Psychologin weiß, dass ihre Das-Glas-ist-mehr-als-halbvoll-Einstellung nicht alle teilen. Viele Menschen, die erblindeten, litten sehr unter dieser Situation. Dabei sei der biologische Prozess nicht mal das Schlimmste, dieser neue Zustand von Hell auf Dunkel, sondern wie sich die Menschen um einen herum verändern.

Statistiken zeigen, dass viele Menschen in gesundheitlichen Krisen von ihrem Partner verlassen werden. „Das war bei mir leider auch so.“ Eine harte Zeit! Aber dann hat sich Anja Gerlmaier gefragt: „Möchte ich mit jemandem zusammenleben, der mit so einer Lebenssituation nicht umgehen kann? Nein!“

Dr. Anja Gerlmaier vom „Institut Arbeit und Qualifikation“ an der Uni Duisburg-Essen.
Dr. Anja Gerlmaier vom „Institut Arbeit und Qualifikation“ an der Uni Duisburg-Essen. © privat

Menschen wendeten sich ab, grüßten nicht mal mehr. „Du hast mich ja eh nicht gesehen und ich hatte es eilig“, lautete die niederschmetternde Antwort, wenn Anja Gerlmaier sie darauf ansprach. „Ich bin von diesem Schwarzwaldklinik-Syndrom geheilt.“ Es sei leider nicht selbstverständlich, dass Menschen und Institutionen für einen da seien, wenn man ohne eigene Schuld in eine Notsituation gerate.

Wenn sich Freunde abwenden

Wenn sich Freunde und Familie nicht abwenden, wollten sie oft dem erblindeten Menschen zu viel abnehmen. Sei es das Schmieren eines Marmeladenbrots oder das Wechseln der Batterie im Wecker: „Ich mache das schon.“ Oder noch schlimmer: „Das kann ich mir ja nicht mit ansehen – lass mich mal.“

Miteinander zu reden, sei unglaublich wichtig, so Anja Gerlmaier. Sie sagt, was sie möchte – und was nicht. Notfalls auch mehrmals. Aber wenn sich das Verhalten nicht ändere, dann passe es nicht mehr.

„Solche übergriffigen Menschen sollte man besser aus seinem Leben verbannen. Das ist extrem erniedrigend“, sagt Anja Gerlmaier, die sich möglichst wenig Gedanken darüber macht, was andere Leute von ihr denken könnten. Die neue Lebenssituation habe ganz viel geklärt. „Zum Schluss hat man nur noch wahre Freunde.“

Sehen heißt für sie heute: fühlen

Sie freut sich, wenn ihr zehnjähriger Sohn beim Frühstück sagt: „Mama, guck mal!“ Und ihr dann das Legoauto in die Hand drückt. „Für ihn ist klar: Für mich heißt ,sehen’ fühlen.“

Weil jemand blind ist, heiße das nicht, dass er nichts mehr selbst erledigen könne. Das Selbstständig-bleiben ist für ihr Selbstwertgefühl wichtig. Und dass sie ihren Beruf ausübt, als Wissenschaftlerin am „Institut Arbeit und Qualifikation“ an der Uni Duisburg-Essen. Sie braucht für manche Aufgaben heute mehr Zeit als früher – „technische Probleme!“. Daher plant sie mehr Zeitpuffer ein, um sich nicht unnötig zu stressen.

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Außerdem hat sie heute ein anderes Verständnis von Erfolg. Als sie wieder anfing zu kochen, wollte sie einen Salat machen. Aber dann rollte eine Cherrytomate weg. „Das ist so ein Moment, wo man denkt: Mein Gott, womit habe ich das verdient? Ich wollte doch nur mal eben schnell Essen machen und jetzt krieche ich auf dem Boden rum – wie peinlich!“ Aber dann überlegte sie sich eine Strategie, nahm einen Besen, fegte die Küche systematisch ab, bis die Tomate in eine Ecke rollte. Geschafft! Das Aufheben einer Tomate mag für Sehende banal sein. „Ich buche so etwas als Erfolgserlebnis ab, sonst ist das nur frustrierend“, sagt die Psychologin.

Anja Gerlmaier wird nie wieder einen Sonnenuntergang sehen – das schmerzt sie. Aber sie müsse nicht erst nach Indien reisen, um neue Erfahrungen zu machen. Da kann schon der Supermarkt-Einkauf zum lustigen Erlebnis werden, wenn aus Versehen nicht Hack, sondern Suppenfleisch im Korb landet. Dann gibt es eben keine Bolognese, sondern ein kreatives Gericht, erzählt die lebensfrohe Frau, die vieles mit Humor nimmt. „Es wird bei mir nie langweilig.“