Essen. Die Bundesnetzagentur prognostiziert, der Kohleausstieg 2030 könne gelingen. Die Essener Steag ist da eher skeptisch. Das sind die Bedingungen.

Die Ampel-Regierung, vorneweg ihr grüner Teil, will bis 2030 raus aus der Kohle. Was bereits im Koalitionsvertrag mit „idealerweise“ relativiert wurde, hat im ersten Regierungsjahr durch das Kohlecomeback neuen, heftigen Gegenwind bekommen. Einige Braun- und Steinkohlekraftwerke bleiben länger als geplant am Netz, manch bereits abgeschalteter Block kehrte sogar zurück ans Netz, um es zu stabilisieren. Der grüne Klimaminister Robert Habeck will nach dem Ende der aktuellen Energiekrise, das er im kommenden Jahr erwartet, den Kohleausstieg umso stärker forcieren. Kann das gelingen? Und was bedeutet es für die drei sehr jungen Steinkohlekraftwerke im Westen? Wie lange laufen die Blöcke in Datteln, Duisburg-Walsum und Lünen noch?

Dass Deutschland es nach wie vor schaffen kann, ab 2030 keine Kohle mehr zu verbrennen und trotzdem verlässlich genügend Strom zu haben, hat Habeck nun sogar schriftlich bekommen: Mit dem jüngsten Bericht der Bundesnetzagentur zur Strom-Versorgungssicherheit bis 2031. Demnach sei die Versorgung auch bei einem deutlich steigenden Stromverbrauch ab 2030 ohne Kohlestrom möglich – wenn bis dahin bestimmte Bedingungen erfüllt werden.

Bedingung 1: Ökostrom-Kapazität verdreifachen

Die haben es freilich in sich, allen voran die Ausbauziele für Ökostrom: Bis zum Ende dieses Jahrzehnts soll die Erzeugungskapazität Erneuerbarer Energien von 123 Gigawatt (2021) auf 360 GW verdreifacht werden. Bleibt es beim bisherigen Ausbautempo, ist das nicht zu schaffen, den Berechnungen der Netzagentur zufolge muss der Zubau „mehr als dreimal“ so schnell erfolgen wie bisher. Erst am Montag hat eine Ernst & Young-Studie aufgezeigt, dass Deutschland hier weit hinter seinen Ausbauzielen her hinkt.

Bedingung 2: rund 30 neue Gaskraftwerke

Kernbedingung Nummer zwei ist der Neubau zahlreicher Gaskraftwerke, die anstelle der Kohleblöcke einspringen, wenn zu wenig Wind weht und die Sonne nicht scheinen will. Bis zu 21 GW an neuen Gasstrom-Kapazitäten werden benötigt, dafür müssen rund 30 moderne Gaskraftwerke gebaut werden. Stromkonzerne wie RWE sind dazu grundsätzlich bereit. Die Netzagentur betont aber, es brauche verlässliche Rahmenbedingungen, damit Unternehmen Kraftwerksneubauten auch wirklich angehen. Konkret wollen sie zugesichert wissen, dass ihre neuen Gaskraftwerke Geld verdienen, auch wenn sie nur selten gebraucht werden.

Habeck hat angekündigt, „im ersten Halbjahr dieses Jahres eine Kraftwerksstrategie“ auflegen zu wollen. Die neuen Gaskraftwerke sollen „H2-ready“ sein, also später auf grünen Wasserstoff umgerüstet werden können. Was wiederum die Skepsis der potenziellen Betreiber hervorruft, ob es denn gelingt, binnen weniger Jahre eine Infrastruktur für Wasserstoff auszubauen sowie durch Produktion und Import ausreichende Mengen des zukunftsträchtigen Brennstoffs zu organisieren. So oder so wird es langsam eng: Bisher dauert ein Kraftwerksneubau vom Antrag bis zur Fertigstellung rund sieben Jahre – damit ist das Jahr 2030 bereits jetzt bedrohlich nah.

Bedingung 3: Speicher, Wasserkraftwerke und mehr Flexibilität

Drittens braucht es mehr Speichermöglichkeiten und flexible Instrumente, um auch kurzfristige Engpässe und Überlastungen im Stromnetz ausgleichen zu können. Dafür sollen etwa Wasserkraftwerke mit einer Kapazität von neun GW gebaut werden. Für die schnelle Reaktion der Netzwächter sind zudem große Stromverbraucher wie die Industrie, künftig Wasserstoff-Elektrolyseure, Elektroautos und Wärmepumpen vorgesehen. Sie könnten „ihren Stromverbrauch um wenige Stunden bis zu einer Woche verschieben“, so die Netzagentur, und so „Schwankungen des Stromangebots ausgleichen“. Auch hier müssen die meisten dieser Anlagen erst noch gebaut werden. Die Regierung rechnet zum Beispiel mit sechs Millionen installierten Wärmepumpen bis 2030, derzeit verwandeln nur eine Million dieser Geräte Umgebungsluft in Wärme.

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Nur wenn alle diese Bedingungen bis 2030 erfüllt werden, kann Deutschland seine Kohlekraftwerke sämtlich abschalten. Anders als bisher hat die Regierung dafür einen aufgrund der Elektrifizierung von Verkehr und Industrie höheren Stromverbrauch mitberechnet. Der ist mit einem Anstieg von 565 auf 750 Terawattstunden allerdings „konservativ“ angesetzt, wie aus der Branche zu hören ist. Gleichzeitig geht Berlin von einem Anstieg der Preise für den Ausstoß von Kohlendioxid von aktuell rund 80 Euro auf 125 Euro je Tonne CO2 aus. Allein dadurch „erfolgt der Kohleausstieg in den Modellrechnungen (...) im Wesentlichen bereits marktgetrieben vor 2030“, glaubt die Bundesregierung.

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Wenn sich das verbrennen von Kohle in Kraftwerken ohnehin nicht mehr lohnt, müssten die Konzerne sie demnach von sich aus vom Netz nehmen. Fragt man nach, ist das jedoch keineswegs klar. Der inzwischen verstaatlichte Uniper-Konzern sieht sein umstrittenes Kraftwerk Walsum 4 über 2030 hinaus zukunftsfähig, ebenso die Essener Steag ihren jüngsten Block in Duisburg: „Walsum 10 wird als noch sehr junges Steinkohlekraftwerke sicher als eines der letzten vom Markt gehen“, betont ein Sprecher.

Steag: Kohlestrom wird auch nach 2030 gebraucht

Wann das voraussichtlich sein werde und ob das auch erst nach 2030 als von der Bundesregierung anvisiertem Datum zum endgültigen Kohleausstieg sein könnte, lasse sich nach heutigem Stand nicht vorhersagen. Ob sich Kohlestrom 2030 noch rechne, hänge ganz entscheidend davon ab, wo der Strompreis dann liege. Und: Unabhängig von dieser betriebswirtschaftlichen Frage könne es aber gut sein, dass Kohlestrom weiter gebraucht werde, etwa weil bis dahin nicht genügend Ökostrom-Kapazitäten und Gaskraftwerke als von der Politik gewünschte Absicherung zugebaut werden. Deshalb sagt der Steag-Sprecher: „Wir sind davon überzeugt, dass Kohlestrom auch nach 2030 noch einen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten wird.“

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Der Stadtwerke-Zusammenschluss Trianel rechnet damit, sein Kohlekraftwerk in Lünen spätestens 2031 abzuschalten. Dass Uniper sich aktuell nicht zur Laufzeit von Datteln 4 äußern will, hängt wohl mit seiner neuen Besitzerin zusammen: der Bundesrepublik Deutschland. Deren Ampel-Regierung will bis 2030 aus der Kohle aussteigen und könnte das größte Steinkohlekraftwerk nun faktisch selbst abschalten. Zumal damit ihre Staatsbahn als größte Datteln-4-Kundin glaubwürdiger behaupten könnte, sie fahre im Fernverkehr mit 100 Prozent Ökostrom. Allerdings muss Uniper Datteln 4 bis 2026 verkaufen – nur unter dieser Auflage hat die EU den Staatseinstieg genehmigt.

Wer soll Datteln 4 kaufen, wenn es 2030 vom Netz geht?

Stellt die Regierung als Uniper-Eigentümerin die Bedingung, dass auch der Käufer das Kraftwerk 2030 abschalten muss, kann man sich den Verkaufsprospekt ungefähr so vorstellen: Umstrittenes, von laufenden Rechtsverfahren begleitetes Steinkohlekraftwerk zu verkaufen, das für wenige Jahre bis zum Ende dieses Jahrzehnts laufen darf, nach unseren Modellrechnungen dann aber ohnehin kein Geld mehr verdient, weil der CO2-Preis so stark steigt. Den zu erzielenden Preis dürfte das nicht eben in die Höhe treiben, was der Bund als guter Eigentümer im Sinne des Unternehmens aber tunlichst anstreben müsste.

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Der scheidende Konzernchef Klaus-Dieter Maubach hat immer wieder betont, Datteln 4 könne zum bisherigen Ausstiegsdatum 2038 laufen, er sei aber bereit, darüber zu verhandeln. Inzwischen hat Maubach aber seinen Rücktritt erklärt, die Nachfolge ist noch ungeklärt – und die Regierung, die federführend durch das Bundesfinanzministerium bei Uniper vertreten wird, hat noch nicht erklärt, was sie mit ihrem Energieunternehmen vorhat.

Ministerium prüft Umgang mit Steinkohlekraftwerken

Zu Datteln 4 und den anderen jungen Steinkohlekraftwerken wollte sich das Wirtschaftsministerium auf Anfrage nicht im Detail äußern. Es verwies auf die Ausschreibungen zur Stilllegung, die Entschädigungen nur bis 2027 vorsehen. Bis dahin dürften fast alle Steinkohlekraftwerke vom Markt gehen. Das gilt allerdings nicht für die jüngsten Kraftwerke, für die das Kohleausstiegsgesetz Härtefallregelungen auch bei einer längeren Laufzeit vorsieht. „Wie hier Anpassungen erfolgen sollen, wird derzeit geprüft“, ließ das Ministerium wissen.