Karlsruhe. Seit Donnerstag verhandelt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe über Klagen gegen den Rettungsfonds ESM. Während Kritiker in diesen „Schicksaltagen“ schon ein Ende der deutschen Souveränität in Europa sehen, warnte Bundesfinanzminister Schäuble vor einem erneuten Aufschieben des Rettungsfonds.

Es ist ein Prozess der großen Zahlen. 23.000 Bürger, Politiker und Professoren klagen. Sie wollen verhindern, dass Deutschland im ärgsten Fall für Rettungsschirm-Kredite in Höhe von 190 Milliarden Euro an notleidende Staaten und Banken haften wird, ohne dass die 620 Abgeordneten im Bundestag gefragt werden.

Es geht aber auch und vor allem um die politische Richtung und um die Macht: Behält das deutsche Parlament sein „Königsrecht“, über Staatsetat und Schuldenaufnahme zu bestimmen? Wo werden die Leitlinien unserer Politik in Zukunft festgelegt: Noch in Berlin? Oder nur noch in Brüssel? Auch: Brauchen wir ein neues Grundgesetz?

Bundesverfasungsgericht entscheidet über Eilanträge

Das Bundesverfassungsgericht hat die Themen am Dienstag erstmals behandelt. Die drei Richterinnen und fünf Richter des 2. Senats wollen in den nächsten Wochen zunächst über Eilanträge auf eine einstweilige Anordnung entscheiden. Mit ihr würde dem Bundespräsidenten untersagt, das Gesetz über den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM zu unterschreiben – womit die Mitwirkung des größten Einzahlers in den Mechanismus gestoppt ist, bevor dieser unwiederbringlich in Kraft tritt.

Für das Eilverfahren will sich das Verfassungsgericht offenbar mehr Zeit nehmen als bislang angenommen. Zu Verhandlungsbeginn am Dienstag in Karlsruhe kündigte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle eine "verfassungsrechtlich vernünftige Prüfung" der Klagen an, die über ein normales Eilverfahren hinausgehen könne. Dies könnte nach Angaben von Prozessbeteiligten bis zu drei Monate dauern.

Das höchste deutsche Gericht diskutierte ersten Verhandlungstag öffentlich, im engen Kino einer ehemaligen Kaserne am Karlsruher Stadtrand und vor nur 114 Zuschauern, weil der Hauptsitz des Gerichts gerade renoviert wird. Öffentlichkeit ist in diesem Stadium ungewöhnlich. Die Richter wollten wohl Zeichen setzen im aufgeladenen Klima, wie wichtig ihnen die Sache ist.

Rettungsschirm ESM

Das Gesetz für den Rettungsschirm ESM hatte ursprünglich bereits am 1. Juli in Kraft treten sollen, wurde aber wegen der eingereichten Klagen verschoben. Für das Eilverfahren war eigentlich mit einer Dauer von bis zu drei Wochen gerechnet worden. Mit den Eilanträgen wollen die Kläger verhindern, dass Bundespräsident Joachim Gauck die Ende Juni von Bundestag und Bundesrat beschlossenen Ratifizierungsgesetze für ESM und Fiskalpakt unterzeichnet, noch bevor das Verfassungsgericht in der späteren Hauptverhandlung in der Sache entscheidet.

„Schicksaltage“ für Deutschland?

Mit dramatischen Worten haben denn auch die Kläger versucht, die Rotroben zu überzeugen. Am radikalsten formuliert es der Wirtschaftsprofessor Karl Albrecht Schachtschneider. „Schicksaltage“ sieht er. Die Währungsunion sei nur „der Hebel“. Die Politik plane längst den „Umsturz“, den „neuen Staat“ Europa, also das Ende der deutschen Souveranität.

Ein „Monster“ sei mit dem ESM zu bändigen, hat auch Mit-Kläger Peter Gauweiler formuliert, der CSU-Politiker aus München. Ihm geht es aber, weniger radikal, darum, dass „diese Struktur mit dem Grundgesetz unvereinbar ist“. Verfassungswidrig werde das Etatrecht des Bundestages beschnitten. Allenfalls das Volk selbst könne so weit gehende Veränderungen festlegen – in einer Volksabstimmung.

Gregor Gysi greift die Idee von der Volksabstimmung auf. Gysi vertritt die Linke in diesem Prozess. Ihn stört, natürlich, auch eine drohende Machtlosigkeit des Bundestages. Aber er hat nichts gegen ein neues Grundgesetz mit mehr EU-Kompetenz. 80 Prozent des alten könnten ja übernommen werden, sagt er. Nur: „Neue soziale Strukturen“ müssten hinzukommen.

Schäuble warnt vor weiterem Aufschieben des ESM

Wolfgang Schäuble, der sonst meist zwischen Berlin und Brüssel pendelt, hat in der ersten Karlsruher Runde die Rolle des Verteidigers des Gesetzes übernommen. Der CDU-Finanzminister sieht im Stabilitätsmechanismus ein „effektives“, „dauerhaftes“ und „verlässliches“ Instrument, den Euro zu retten. Würde das Gericht mit der einstweiligen Anordnung die deutsche Zustimmung aufschieben, sieht er „einen weiteren Vertrauensverlust“ für die Währung und am Ende eine tief greifende Wirtschaftskrise.

Berlin fürchtet das Eingreifen aus Karlsruhe. Das Verhältnis zwischen dem Gericht mit seinem Vorsitzenden Andreas Voßkuhle und der schwarz-gelben Parlamentsmehrheit sowie der Bundesregierung ist belastet. Es werden jeden Tag Bissigkeiten und Indiskretionen bekannt. Hat nicht die frühere französische Finanzministerin Christine Lagarde („Wenn ich noch einmal das Wort Bundesverfassungsgericht höre…“) schon die Machtfülle der deutschen Top-Juristen beklagt? Der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff bezweifelt deren Kompetenz. Es werden Hinweise gestreut, der Richter Peter Huber sei befangen, der früher bei der zu den Klägern gehörenden Initiative „Mehr Demokratie“ mitgemacht hat.

Verfassungsrichter Voßkuhle bleibt nüchtern

Voßkuhle bleibt bei alledem nüchtern. Er weiß um die Wirkung einer einstweiligen Anordnung und die panischen Schlagzeilen und Reaktionen vor allem im Ausland, sagt er. Er will das berücksichtigen. Er stellt aber gezielte, freundlich-kritische Fragen: Wird das deutsche Parlament genug beteiligt? Sind die 190 Milliarden Euro Risiko das Ende der Fahnenstange – oder droht, unkalkulierbar, weit mehr?

Die Fragen in solchen Verfassungsgerichts-Verhandlungen haben oft genug erste Hinweise auf das Urteil gegeben. Das weiß auch die Regierung. (mit Material von afp)