Berlin. . In Berlin wird es längst diskutiert: Vielleicht entscheidet bald das Volk über die Zukunft Europas. Das Verfassungsgericht sagt jedenfalls, dass man sich eine neue Verfassung geben müsste, wenn der Zug in Richtung Vereinigte Staaten von Europa geht. Gerichts-Präsident Voßkuhle: „Ohne das Volk geht es nicht.“
Bereits Ende dieser Woche könnte es sich (vor)entscheiden, ob es in Deutschland zur Volksabstimmung über die EU-Politik kommen wird. Die Chefs von vier großen europäischen Institutionen wollen auf einem EU-Gipfel ihre Ideen für eine vertiefte Integration zur Debatte stellen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wäre bereit, Macht abzugeben. Zuvor müsste sie die Bürger dazu befragen. Faktisch würde sich Deutschland eine neue Verfassung geben. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hält das auch nicht mehr für Zukunftsmusik. In Berlin wird darüber längst diskutiert. Alle Fragen dazu im Überblick:
Woher weht der neue Wind?
Die politische Großwetterlage wird von zwei Faktoren bestimmt. Zum einen stellte der Präsident des Karlsruher Verfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, im September 2011 klar, dass der Rahmen im Grundgesetz für eine weitere europäische Integration „weitgehend ausgeschöpft“ sei. Er sprach sich nicht dafür oder dagegen aus, weitere Kernkompetenzen abzugeben. Er hat nur klargemacht, dass man sich eine neue Verfassung geben müsste, wenn der Zug in Richtung Vereinigte Staaten von Europa geht. Voßkuhle: „Ohne das Volk geht es nicht.“ Zum anderen hat die Euro-Krise einen Geburtsfehler der Gemeinschaftswährung bloßgelegt. Die Finanzpolitik vor allem müsste mehr als bisher vergemeinschaftet werden und die einzelnen Staaten Kompetenzen abtreten. Das wird für den EU-Gipfel geprüft. Schäuble schließt nichts mehr aus: „Danach werden wir sehen“.
Könnte Merkel nicht einfach Fakten schaffen?
Vielleicht hätte sie das probiert. Aber bei Entscheidungen solcher Tragweite finden sich immer Kläger. Wenn der oberste Richter im Interview „bis-hierhin-und-nicht-weiter“ ruft, kann sich Merkel nicht taub stellen. Voßkuhle hat eine rote Linie markiert.
Zeigt er auch einen Weg auf? Er beruft sich auf den Schlussartikel im Grundgesetz. Artikel 146 besagt, dass die Verfassung ihre Gültigkeit an dem Tag verliert, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Zur Volksbefragung meint Ex-Finanzminister Peer Steinbrück (SPD): Wer den Richtern zugehört habe, wisse, „dass es anders nicht geht.“
Wäre das ein Novum?
Absolut. Das Grundgesetz kennt bisher keine plebiszitären Elemente, wie es in der Fachsprache heißt, also keine Volksbefragungen oder -entscheide. Das Volk hat weder über den Euro noch über die Einheit noch über das Grundgesetz selbst befunden. In jedem Fall müsste eine Volksbefragung genau gesetzlich geregelt werden.
Heißt die Devise „mehr Demokratie“?
Viele Parteien sind für plebiszitäre Elemente, nicht nur die Grünen und die SPD. „Wir können uns das ja schon länger vorstellen“, gab gestern FDP-Generalsekretär Patrick Döring zu Protokoll. Auch die Initiative „Mehr Demokratie“ wittert Morgenluft. Man muss differenzieren: Diskutiert wird es momentan nur für die Europa-Frage. Alle Parteien wollen das Volk befragen, wenn man mehr Rechte nach Brüssel überträgt - und zwar unabhängig davon, ob man den Trend begrüßt. Bei der FDP hört man Zweifel heraus, ob der Euro das richtige Thema für die erste Volksbefragung wäre. Die CSU, wo viele Euro-Skeptiker zu Hause sind, hat schon vor einem halben Jahr einer Volksbefragung das Wort gesprochen.
Wann tritt der Fall ein?
Schäuble vergleicht die Dynamik mit der deutschen Einheit. Will sagen: Es kann schnell gehen. Ein Indikator ist die angekündigte Verfassungsklage der Abgeordneten der Linkspartei gegen ESM. Sie sind der Meinung, dass die Regierung mit diesem Hilfsfonds eine rote Linie verletzt und die EU bereits heute wie ein Bundesstaat aufgebaut ist. Auch die Linke kämpft für eine Volksabstimmung. Siegt sie vor Gericht, kann es schnell gehen, eine Frage von Monaten, nicht von Jahren.
Wer könnte parteipolitisch daraus Honig saugen?
Die Deutschen gelten als europafreundlich. Irland zeigt, dass sich ein Volk für Europa gewinnen lässt. Es ist eine Frage der Ansprache. Die Volksparteien würden - in der Sache, wohlgemerkt - eine große Koalition eingehen. Die Freien Wähler, die 2013 bei einer Bundestagswahl antreten, bekämen die denkbar beste Mobilisierungshilfe.