Essen. Dauerstreit bei Thyssenkrupp, die ganze Branche in der Krise, Zweifel an DRI-Strategie: Um diese Kernfragen geht es beim Stahlgipfel in Duisburg.

Rufen Politik, Wirtschaft und IG Metall zu einem Stahlgipfel, steht „Gipfel“ für die Spitze eines Eisbergs aus lauter Problemen. So auch diesmal, wenn sich am Montagabend in Duisburg Spitzenpolitiker aus Land und Bund mit Gewerkschaftern und der Wirtschaftsvereinigung Stahl treffen. Branchenführer Thyssenkrupp steckt einmal mehr in der Krise, der Konzern will seine Stahltochter loswerden und Tausende Arbeitsplätze streichen. Auch die Konkurrenz tut sich schwer: Mit den hohen Energiekosten, Billigimporten aus China und der zunehmenden Ungewissheit, ob und wie der Umstieg auf grünen Stahl gelingen kann.

Passenderweise findet gleichzeitig auch ein dreitägiger Wasserstoffgipfel im Ruhrgebiet statt. Mit Ökostrom erzeugter Wasserstoff soll künftig die Energie für grünen Stahl liefern, mit dem sich die deutschen Hersteller einen neuen Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz aus Fernost und Übersee erarbeiten will. Doch schon an dieser Grundvoraussetzung für die Überlebensstrategie energieintensiver Industrien wie Stahl und Chemie wachsen derzeit die Zweifel. Denn dafür müssen Leitungen ertüchtigt, Anlagen gebaut, Importe gesichert werden. Ob diese Industrierevolution binnen weniger Jahre gelingen kann und ob sie bezahlbar ist, glauben viele Beobachter nicht mehr.

„Wahnsinnig, dass der BDI-Chef die DRI-Anlage in Duisburg infrage stellt“

Offen äußern in der Industrie nur wenige ihre Zweifel. Bewusst in der Öffentlichkeit platzierte Skepsis kommt ausgerechnet von Thyssenkrupp. Die Direktreduktionsanlage (DRI), die in Duisburg bereits gebaut wird und die Stahlwerke in zwei Jahren mit klimafreundlicherem Roheisen versorgen soll, werde deutlich teurer, beklagten Konzernchef Miguel López und Aufsichtsratsvorsitzender Siegfried Russwurm, nach unseren Informationen um 300 bis 400 Millionen Euro. Zu den bisher veranschlagten Gesamtkosten von drei Milliarden Euro steuert der Staat zwei Milliarden bei. Russwurm adressierte das nach dem Rauswurf von Stahl-Chef Bernhard Osburg als neues Problem. Und López‘ Bekenntnis zum Bau der DRI-Anlage („bleibt unser erklärtes Ziel“) blieb vage.

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„Ich finde es wahnsinnig, dass ausgerechnet der BDI-Chef in seiner Funktion als Thyssenkrupp-Aufsichtsratschef jetzt die DRI-Anlage in Duisburg infrage stellt. Damit gefährdet er den Wasserstoffhochlauf in der Region und darüber hinaus“, sagt der Duisburger Bundestagsabgeordnete Felix Banaszak (Grüne). Gelinge der Wasserstoffhochlauf, profitierten davon sehr viele Betriebe – „für die trägt der Industriepräsident auch Verantwortung“, betonte der Industriepolitiker im Gespräch mit unserer Redaktion.

Den Managern bei Thyssenkrupp müsse die Reichweite ihrer Entscheidungen klar sein: „Es geht nicht nur darum, dass Frau Gather für ihre Krupp-Stiftung endlich wieder eine Dividende erhält und für Kunstprojekte ausschütten kann. Es geht um sehr viel mehr, eigentlich geht es gerade um alles“, so Banaszak. Stiftungschefin Ursula Gather hat sich mit Russwurm hinter den harten Kurs des Konzernchefs López gestellt. Falsche Entscheidungen im Thyssenkrupp-Management könnten „eine Lawine in Gang setzen, die sich über die gesamte Branche, aber auch darüber hinaus ins ganze Land erstrecken kann“, warnt Banaszak, „das müsste dem BDI-Chef eigentlich klar sein.“

Die ersten wollen bereits das Roheisen importieren statt es zu produzieren

Am Montag soll es in Duisburg aber nicht nur um Thyssenkrupp gehen, Unsicherheit spürt die gesamte Branche. Für Deutschlands zweitgrößtes Stahlwerk, dem von HKM im Duisburger Süden, gibt es bereits Pläne, sowohl auf die bisherigen Hochöfen als auch auf eine DRI-Alternative zu verzichten. Der Hamburger Finanzinvestor CE Capital Partners, der HKM von seinen drei Eigentümern Thyssenkrupp, Salzgitter und Vallourec übernehmen will, plant Roheisen-Importe und will dieses DRI mit Stahlschrott in Elektroöfen schmelzen und zu Brammen verarbeiten. In der Branche und der IG Metall wurde das als pragmatisches, gutes Konzept aufgenommen. Beraten wird CEC vom früheren Chef der Dillinger Hütte und von Saarstahl, Karlheinz Blessing.

Wie der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und seine Parteifreundin Mona Neubaur als Landeswirtschaftsministerin das bewerten, dürfte ein Thema in Duisburg werden. Bund und Länder haben immerhin bereits Zuschüsse für vier DRI-Anlagen bewilligt, auch für Salzgitter, Arcelor Mittal und Saarstahl.

Stahlverband: Ohne lokale Roheisenbasis drohen neue Abhängigkeiten

Kerstin Maria Rippel, Hauptgeschäftsführerin der Wirtschaftsvereinigung Stahl, betont gegenüber unserer Redaktion, wie wichtig es sei, diesen Weg weiterzugehen: „Eine lokale Roheisenbasis vor Ort ist schon aus Resilienzgründen unverzichtbar, sonst drohen weitere strategische Abhängigkeiten. Zudem wird bis 2030 weltweit bei weitem nicht genügend grünes DRI produziert werden – das zeigen Prognosen der OECD eindeutig“, warnt sie.

Sie sei „weiter überzeugt“, dass der Umbau der Stahlindustrie in Deutschland gelingen könne, erklärt Rippel. Allerdings sei die Lage derzeit „extrem angespannt“, nicht nur in NRW, sondern an allen Stahl-Standorten in Deutschland. Wegen der hohen Strompreise, besonders aber auch, weil „die Planungssicherheit beim gesamten Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft“ fehle. „Dazu kommt das grundlegende Thema der Finanzierung unseres Jahrhundertprojekts Transformation. Die Bundespolitik ist hier gefragt, für Verlässlichkeit zu sorgen – und das über Legislaturperioden hinweg“, fordert sie.

CDU-Politiker Radtke: „Es ist mindestens fünf vor zwölf“

In diese Kerbe schlägt auch der Bochumer Europaabgeordnete Dennis Radtke (CDU): „Es ist mindestens 5 vor 12. Wir brauchen jetzt dringend wuchtige Signale aus Brüssel und Berlin, dass die industriepolitischen Weichen neu gestellt werden, damit Stahl in Deutschland und Europa Zukunft hat“, sagte er unserer Redaktion. Wer nicht wolle, „dass China künftig entscheidet, ob Energiewende und Nachrüstung in Deutschland stattfinden“, müsse jetzt handeln. „Es geht um hunderttausende Arbeitsplätze, Wertschöpfung und Resilienz.“

Dabei sieht der Europapolitiker aus dem Ruhrgebiet vor allem auch die EU-Kommission in der Pflicht, ihrem „Green Deal“ einen „Industrial Deal“ folgen zu lassen. Radtke meint damit ein neues, Industrie-freundlicheres Beihilferecht. „Es geht nicht mehr darum, vor Protektionismus in der EU zu schützen. Der härteste Wettbewerb findet zwischen der EU und den USA und China statt. Beihilfen müssen schnell genehmigt werden und Förderprogramme so einfach sein, dass Unternehmen nicht mehr resigniert abwinken und das Weite suchen.“

Grünen-Politiker Banaszak: Strompreise durch Netz-Vorfinanzierung entlasten

In Deutschland geht es aktuell vor allem darum, den Aufbau der Wasserstoffwirtschaft zu beschleunigen und die Industrie bei den Energiepreisen zu entlasten. Banaszak, industriepolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, wirbt dafür, die Strompreise über eine Art Vorfinanzierung steigender Netzentgelte zu entlasten, wie es bereits beim Aufbau der Wasserstoffnetze geplant ist.

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Vereinfacht ausgedrückt werden dabei steigende Kosten im Zuge des Auf- und Ausbaus der Netze zunächst vom Staat aufgefangen, um die Verbraucher zu schonen. Das Geld ist aber nicht geschenkt, sondern soll dem Staat zurückgezahlt werden, wenn sich der Netzausbau durch sinkende Preise auszahlt. „Das würde beim Strom die Verbraucher, private wie industrielle, sofort entlasten“, sagt Banaszak.

Wasserstoffwirtschaft, Stahlindustrie und Weiterverarbeiter brauchen einander

Auf den Wasserstoff-Hochlauf bezogen könne so auch das Henne-Ei-Prinzip gelöst werden, denn: „Die Industrie braucht die Sicherheit, genügend grünen Wasserstoff zu erhalten, etwa wenn ihre DRI-Anlagen stehen. Dafür müssen wir den Aufbau der Infrastruktur beschleunigen. Umgekehrt braucht aber auch die Wasserstoffwirtschaft die Sicherheit, dass sie genügend Abnehmer haben wird, sobald sie liefern kann.“ Für Banaszak ein Grund mehr, die vier genehmigten DRI-Anlagen in Duisburg, Salzgitter, Bremen und dem Saarland wie geplant zu bauen, damit der Wasserstoffwirtschaft mindestens diese Abnehmer sicher sind.

Es ist eine ganze Kette gegenseitiger Abhängigkeiten, die ineinander greifen muss, damit der deutsche Weg zu grünem Stahl funktionieren kann. Denn auch die Stahlindustrie braucht wiederum Abnehmer für ihren künftig klimafreundlicher produzierten Stahl, der teurer sein wird als der Importstahl aus China. Auch das wollen Stahlindustrie und Bundesregierung gemeinsam anschieben, mit der Schaffung „grüner Leitmärkte“. Deren Ziel ist es, zumindest für öffentliche Aufträge künftig einen schrittweise steigenden Mindestanteil von grünem Stahl festzusetzen.

Industrie und Regierung planen Grünstahl-Quote für öffentliche Aufträge

„Für unsere Zukunftsfähigkeit ist die Schaffung grüner Leitmärkte wesentlich“, sagt Rippel, die Expertin für die Transformation der Branche bei der Wirtschaftsvereinigung Stahl. Die hat ein Zertifizierungssystem für klimafreundlichen Stahl entwickelt und sieht nun die Ampel am Zug: „Jetzt ist der Gesetzgeber gefragt, das Vergaberecht ebenfalls zukunftsfähig auszugestalten“, fordert Rippel. Meint: Wer sich künftig um öffentliche Aufträge bewirbt, soll derart zertifizierten Stahl kaufen müssen.

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