Essen. Brüssel und Berlin machen Tempo beim Klimaschutz – und vielen Menschen Angst. Warum die FDP sich als Bremse profiliert. Und das keine Lösung ist.
Verbrenner-Aus, Sanierungszwang fürs Eigenheim, Gas- und Ölheizungsverbot: Brüssel und Berlin brechen derzeit jedes Tempolimit, um beim Klimaschutz verlorene Zeit aufzuholen. Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich dadurch überfordert, werden bestärkt durch Opposition, Immobilien- und Autolobby sowie die Regierungspartei FDP. Zu kurz die Fristen, zu teuer das Ganze, zu hart der Richtungswechsel. Dass nach vielen Jahren des Stillstands jetzt alles auf einmal kommen soll, ist auch eine Zeitenwende – und anders als der Krieg eine selbst vollzogene. Schnelle, drastische Veränderungen sind nicht eben das, worüber sich das Gewohnheitstier Mensch freut, schon gar nicht, wenn’s auch noch Geld kostet. Die Politik spiegelt das Eins zu eins wider: Grüner Veränderungsehrgeiz und ein breiter werdender Konservatismus prallen aufeinander wie lange nicht mehr.
In der selbst ernannten Fortschrittskoalition stehen die Liberalen mit ihrem ganzen Gewicht auf der Bremse. Sie wollen den Verbrenner-Motor retten, die Wärmewende langsamer angehen und ihr Verkehrsminister Volker Wissing gibt der Straße den Vorrang vor der Schiene, sprach zuletzt gar von „Klima-Blabla“. Die FDP positioniert sich nach lauter verlorenen Wahlen seit Beitritt zur Ampel neu – als Bewahrer des Status quo. Die neue Konservative ist gelb.
Erst ging alles zu langsam, jetzt zu schnell
Nach einem Jahr Krieg in Europa, der tiefsten Energiekrise seit 50 Jahren und der gleichzeitig breiter werdenden Erkenntnis, dass die Zeit im Kampf gegen den Klimawandel davonrast, ändert sich auch das politische Klima. Die Radikalität der neuen Pläne ist zunächst vor allem eines: neu. Wer sich für Politik interessiert, dem ging in den vergangenen Jahrzehnten vermutlich alles überall zu langsam. Die Trägheit der Regierenden und noch mehr ihrer Bürokratien in Brüssel und Berlin ist legendär. Die Gewissheit, dass im EU-Parlament oder im Bundestag Diskutiertes vielleicht in zehn Jahren oder nie kommt, war die Keimzelle der vielzitierten Politikverdrossenheit.
Das jahrzehntelang oberste Gebot unseres Parlamentarismus, den Menschen nur so viel zuzumuten, wie der politische Überlebenswille es zulässt, ist zugleich die Ursache für die nun aufkeimende Hektik. Die Energiewende geht zu langsam voran. Die Wärmewende hat gerade erst begonnen. Die Verkehrswende ist noch nicht einmal im Ansatz erkennbar. Und die Erkenntnis, dass grüner Strom in wenigen Jahren Kohle, Gas und Öl in allen Bereichen ersetzen soll, trifft auf eine Realität aus Bürgerprotesten gegen neue Windräder und Stromtrassen.
Nachdem auch die so ambitioniert gestartete Ampel-Koalition in Sachen Klimaschutz ein erstes verlorenes Jahr mit Kohle-Comeback und Bahn-Chaos hingelegt hat, wollen die Grünen nun umso ruckartiger wenden. Etwa Öl- und Gasheizungen früher verbieten. Grüne Verbotsideologie macht wieder die Runde in Talkshows, am lautesten kritisiert von Unionspolitikern.
Von der Leyens ehrgeiziges Klimaprogramm
Dies, obwohl in Brüssel die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin die treibende Kraft für ehrgeizigeren Klimaschutz ist. Die neuesten EU-Pläne zum Verbrennerverbot und Sanierungspflicht für Gebäude stehen ganz im Zeichen ihres „Fit-for-55“-Programms zur entsprechenden Senkung der Treibhausgas-Emissionen. Doch wie so oft greifen die Abwehrreflexe erst, wenn es konkret wird – und alle schlagen Alarm: Heizung erneuen, Fenster tauschen, Fassaden dämmen – all das gleichzeitig überfordere die Menschen.
Was vergessen wird: Dass nach der Industrie auch im Verkehr und Gebäudesektor das Tempo beim Klimaschutz erhöht werden muss, um auch nur in die Nähe der gemeinsamen Klimaschutzziele zu kommen, war bis vor Kurzem parteiübergreifender Konsens. Gestritten werden müsste demnach nur darüber, wie man das am besten, also ohne soziale Überforderung hinbekommt. Unter dieser Prämisse verliert jedes dieser Vorhaben für sich an Schrecken.
Das Brüsseler Verbot von Verbrenner-Motoren
Die EU will ab 2035 keine Autos mit Otto- oder Dieselmotoren mehr neu zulassen. Das war bereits Konsens, auch in der Ampel. Allerdings hatten die Liberalen darauf gesetzt, dass ihre Forderung, Verbrennermotoren weiter zuzulassen wenn es bis dahin klimaneutrale Kraftstoffe (E-Fuels) gibt, noch aufgenommen werde.
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Mit seiner Blockade zog vor allem FDP-Chef und Porsche-Fan Christian Lindner Spott auf sich: Er wolle eine „Lex Porsche“ durchsetzen. Tatsächlich ist der Sportwagenhersteller so ziemlich der einzige große Autobauer, der auf E-Fuels setzt. VW, BMW und Mercedes stecken fast ihre gesamten Investitionen in die Entwicklung von Elektroautos. Die von der FDP geforderte Technologieoffenheit ginge somit am Großteil der Autoindustrie vorbei, die sich längst gegen Verbrennermotoren entschieden hat.
Die schiefe Argumentation der Grünen gegen E-Fuels
Nur: Warum sollte es dann ein Problem sein, eine Hintertür offenzuhalten, wenn die Industrie gar nicht hindurch will. Und wenn es wider Erwarten doch bezahlbare, klimaneutrale Kraftstoffe gäbe, warum sollte man sie nicht nutzen dürfen?
Mit dem Hauptargument der Grünen, E-Fuels seien zu teuer und eine technologische Totgeburt, hätte man vor 20 Jahren die von ihnen durchgesetzte Energiewende gar nicht erst beginnen können. Jede neue Technologie ist anfangs nicht marktfähig. Solarstrom wäre seinerzeit ohne Subventionen unbezahlbar gewesen, heute ist er die günstigste Form der Stromerzeugung.
Der FDP-Verkehrsminister auf den Spuren seiner CSU-Vorgänger
Das viel größere Problem ist: Wissing verantwortet den neben Industrie und Gebäuden dritten Hauptverursacher der CO-Emissionen. Und der Verkehr ist bisher der einzige, in dem der Ausstoß weiter gestiegen ist. Auf den Rüffel des Umweltbundesamts reagierte Wissing patzig und meinte, das sei ein Zeichen für eine dynamische Wirtschaft, meinte damit: ein gutes. Ihm ist der Ausbau der Straßen wichtiger als der der Schiene – so wie seinen CSU-Vorgängern.
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Wie es anders geht, macht gerade Österreich vor: Die schwarz-grüne Regierung hat sämtliche Straßenprojekte gestoppt und lässt für jedes einzelne prüfen, ob das im Zweifel vor Jahrzehnten gefasste Vorhaben wirklich noch sinnvoll ist. Zugleich wird die Schiene massiv ausgebaut, mit einem Klimaticket können Österreicher ein Jahr lang für 1095 Euro jeden Bus und jeden Zug besteigen, egal ob Fern- oder Nahverkehr. 2021 eingeführt, übertrifft es alle Erwartungen, mehr als 200.000 sind inzwischen verkauft, was bei nur zwei Millionen Pendlern in dem Land in der Kürze sehr viel ist. Vor allem lassen viele ihr Auto dafür stehen.
Die Deutsche Bahn sieht der Bundesrechnungshof dagegen als Sanierungsfall, in dem es Jahrzehnte unzureichender Instandhaltung wettzumachen gilt. Wissing selbst glaubt, das dauere bis 2070, sieht aber keine Notwendigkeit für eine neue Prioritätensetzung zwischen Straße und Schiene.
Die EU-Pflicht zur Gebäudesanierung
Das EU-Parlament fordert, bis 2030 alle Gebäude auf die Energieeffizienzklasse „E“ zu heben, bis 2033 mindestens auf „D“. Das beträfe in Deutschland rund sieben Millionen Eigenheime, die in den schlechtesten Klassen „F“, „G“ und „H“ einzuordnen sind und damit mehr als 160 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr verbrauchen. Damit ist das Parlament zu den ursprünglich diskutierten Plänen eine Klasse ehrgeiziger geworden, was als Verhandlungsbasis für die Abstimmungen mit EU-Kommission und den Mitgliedsstaaten dienen soll.
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Renoviert werden müssten bisher nur rudimentär oder gar nicht gedämmte, alte Häuser. Es ist unstrittig, dass dies überfällig ist, schließlich stoßen Gebäude rund ein Drittel aller Treibhausgase in Europa aus. Auch in Deutschland ist das Sanierungstempo noch viel zu niedrig, wie das Umweltbundesamt Bauministerin Klara Geywitz (SPD) ins Stammbuch geschrieben hat.
Das Ziel der EU, europaweit möglichst energiesparende Häuser zu haben, kann nicht strittig sein, sehr wohl aber die Finanzierung. Um eine Energieklasse aufzusteigen, reichen in dem einen Haus bereits neue Fenster, in vielen Fällen aber auch nicht, dann kommen schnell fünfstellige Kosten zusammen, in der Spitze nach Branchenschätzungen bis zu 100.000 Euro. Die EU will die Sanierung fördern, die Bundesregierung tut dies bereits. Sicherzustellen gilt es, dass diese Förderungen ausreichen, damit Hausbesitzer nicht überfordert sind, für wen es Härtefallregelungen geben kann und wie mit den Fristen verfahren wird, wenn es nicht am Willen, sondern am Mangel von Handwerkern und Geräten scheitert, was aus gutem Grund befürchtet wird.
Vielleicht die dickste Beruhigungspille: Was das EU-Parlament beschließt, wird traditionell von der Kommission und den EU-Staaten noch kräftig abgeschwächt.
Das deutsche Verbot von Öl- und Gasheizungen
Klimaminister Habeck will bereits ab 2024 den Einbau neuer Gas- und Ölheizungen in Deutschland verbieten, ein Jahr früher als bisher geplant. Auch das hat den Reflex ausgelöst, vor Überforderung zu warnen. Es gebe nicht genügend Handwerker und schon gar nicht genügend Wärmepumpen, das erreichen zu können. Wie bei den Brüsseler Gebäudesanierungsplanen gilt auch hier: Das Ziel kann niemand falsch finden, moderne Öfen sind mittelfristig im Verbrauch deutlich günstiger und schonen das Klima. Bei Neubauten sind Wärmepumpen daher längst Standard, das Problem sind alte, schlecht gedämmte Häuser, für die sie ungeeignet sind. Der EU-Plan, die energetische Substanz der Häuser zu verbessern, zahlt damit doppelt auf die Wärmewende ein.
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Die Praktiker kritisieren, ein so schneller Umstieg sei nicht machbar sei und sie haben damit sehr wahrscheinlich Recht. Auch bauen sie derzeit noch schnell Hunderttausende Öl- und Gasheizungen ein, weil die Leute dem Verbot zuvorkommen wollen. Das freilich ist immer so, wenn eine Verbotsfrist gesetzt wird, man erinnere sich nur an die Glühbirnen-Horterei vor 15 Jahren. Die Industrie reagiert sehr schnell und fährt ihre Wärmepumpen-Kapazitäten hoch, der Mangel wird nicht von Dauer sein. Größter Engpass dürften die fehlenden Fachkräfte sein, die all die Anlagen einbauen sollen.
Entscheidend ist daher auch hier, dass niemand dafür bestraft wird, wenn er eine Frist unverschuldet reißt. Den dafür nötigen Pragmatismus hat Habeck bereits versprochen, es soll Härtefallklauseln und eine dreijährige Übergangsfrist geben, in der defekte Gas- und Ölheizungen noch durch gebrauchte ersetzt werden können.
Die Hektik ist kein Selbstzweck – sondern logische Folge der Klimadaten
Was Berlin und Brüssel planen, bleibt ein Sprung ins Ungewisse. Zumal dafür und für eine klimaneutrale Industrie Unmengen an zusätzlichem und grünem Strom gebraucht werden. Es weiß heute niemand, ob die grüne Elektrifizierung in so vielen Bereichen gleichzeitig gelingen kann. Gut möglich, dass deswegen nach 2030 noch Kohlekraftwerke laufen werden. Gut möglich, dass 2030 nicht jedes Häuschen in Europa gedämmt sein wird. Und gut möglich, dass dann auch noch der ein oder andere Auspuff qualmt. Doch wer noch wirksam gegen den Klimawandel angehen will, muss in diesem Jahrzehnt radikal umsteuern, damit die Erderwärmung in für unsere Kinder und Enkel erträglichen Grenzen gehalten werden kann. Das ist die logische Folge aus den nackten Daten. Das Pariser 1,5-Grad-Ziel wird allen Prognosen zufolge noch in diesem Jahrzehnt gerissen. Jedes Zehntelgrad droht in der Zukunft wirtschaftliche, ökologische und soziale Spannungen ungekannten Ausmaßes auszulösen.
Je radikaler die Wende vollzogen wird, desto stärker dürfte das Comeback des Konservatismus werden. Das wiederum könnte ehrgeizige Vorhaben wieder rückabwickeln. Eine breitestmögliche Verständigung in Deutschland und Europa auf gemeinsame, langfristige Ziele und den Weg dorthin war nie wichtiger. Und schwieriger.
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