Essen. Grüne sind aus Rücksicht auf ihre Basis gegen einen Akw-Streckbetrieb. Doch der Fakten-Stresstest lässt von den Argumenten der Union wenig übrig.

Atomkraft leistet mit sechs Prozent den kleinsten konventionellen Beitrag zum deutschen Strommix, aber den größten zum deutschen Debattensommer. Nichts wird hitziger und unerbittlicher diskutiert als die Frage, ob die letzten drei Atomkraftwerke nicht doch weiterlaufen sollen. Wie das möglich ist? Weil sich bei diesem Thema nach langer Pause endlich mal wieder die Ideologiekeule schwingen lässt.

Ideologen handeln mehr aus Überzeugung als aus fachlichen Erwägungen. Ob sie bei einer aktuell zu treffenden Entscheidung in der Sache richtig oder falsch liegen, ist somit eher Zufall. Die Grünen blockieren aus ideologischen Gründen den von fast allen Energieexperten und den Netzbetreibern favorisierten Streckbetrieb der verbliebenen Akw bis in den Frühling. Doch statt auf Nummer sicher zu gehen, nimmt Minister Habeck hier Rücksicht auf seine aus der Anti-Atomkraft-Bewegung geborene Partei und schickt zwei von drei Akw in eine Notreserve, was Fachleute und Akw-Betreiber nicht für sinnvoll halten.

Grüne und schwarze Ideologen

Doch Ideologen existieren selten ohne Konterpart. Die Konservativen, die nun den Strom-GAU an die Wand malen und – ebenfalls gegen alle Expertenmeinungen – Habeck vorab für den großen Blackout im Winter verantwortlich machen, könnten beim Blick in den Spiegel auch einen Pro-Atomkraft-Ideologen erkennen. Oder zumindest einen Grünen-Allergiker, der jede Chance nutzt, die weltfremden Öko-Ideologen vorzuführen. Auch auf dieser anderen Seite der gleichen Ideologie-Medaille können sachliche Einwände die Chefankläger Merz und Söder nicht stoppen.

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Aber was soll nun jemand aus der Mehrheit derer damit anfangen, der weder in der Schlacht um Brokdorf sozialisiert wurde noch um die bleiern-biedere Kohl-Ära trauert? Oder dem beides nichts sagt, weil er im Zweifel noch gar nicht geboren war und zur großen Gruppe der jungen Wechselwähler gehört, die mit Ideologiekeulen schwingenden Grabenkämpfern nicht viel anfangen können?

Die Hauptargumente sind gewichtig

In den Nachrichten ist zu hören, dass in der Ukraine um Europas größtes Kernkraftwerk gekämpft wird, dass die Welt-Atomenergiebehörde vor einer nuklearen Katastrophe im Akw Saporischschja warnt. Und, dass in Frankreich ein Dutzend Akw verrostet und aus Sicherheitsgründen abgeschaltet wurde. Den Königsweg aus der deutschen Energiekrise in Atomkraft zu sehen, drängt sich dem Randbeobachter zumindest nicht von allein auf.

Doch die Argumente dafür, die deutschen Kernkraftwerke in diesem Winter noch laufen zu lassen, klingen gewichtig: Mehr Netzsicherheit, ein dämpfender Preiseffekt und die Möglichkeit, Gaskraftwerke zu ersetzen, um mehr Gas für die Industrie und unsere Heizungen übrig zu haben. Keines dieser drei Argumente ist ganz falsch, aber es übersteht auch keines den Fakten-Stresstest unbeschadet.

Atomkraftwerke sind eine Hauptursache für die hohen Strompreise

Atomkraftwerke sind Stand heute vor allem die Ursache unseres Stromproblems, nicht die deutschen, aber die für das deutsche Netz noch wichtigeren französischen. Fast jeder zweite der 56 Atommeiler im Nachbarland läuft derzeit nicht, viele aus Sicherheitsgründen, etwa wegen Rostschäden an den meist sehr alten Meilern oder weil es an Kühlwasser aus den Flüssen mangelt, die wegen der langen Dürre zu wenig Wasser führen. Deutschland exportiert deshalb aktuell viel Strom nach Frankreich. Das verknappt hierzulande das Angebot und treibt den Strompreis.

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Zur ganzen grünen Wahrheit gehört auch, dass französischer Atomstrom normalerweise auch unsere Netze stabilisieren hilft, besonders, wenn es beim Umstieg auf Erneuerbare in wind- und sonnenarmen Phasen im Netz mal eng werden sollte. Verrosten weitere französische Akw und setzen sich die anhaltenden Probleme bei den Neubauten im Nachbarland fort, hat also nicht nur Frankreich ein Stromproblem, sondern auch Deutschland.

Netzbetreiber sehen keine Blackout-Gefahr

Dass der Strom aktuell vorwiegend in die umgekehrte Richtung über die Grenze fließt, ist auch ein Hauptgrund der für diesen Winter prognostizierten Engpässe in Deutschland. Die vier Übertragungsnetzbetreiber können bei einer planmäßigen Abschaltung der deutschen Akw zum Jahresende „stundenweise krisenhafte Situationen“ im Netz „nicht vollständig ausschließen“, halten sie gleichwohl für unwahrscheinlich, ist ihrem zweiten Stresstest für die Bundesnetzagentur zu entnehmen.

Das Wort „Blackout“ nimmt bei den Netzbetreibern niemand in den Mund. Es geht auch im schlimmsten simulierten Szenario um regionale, kontrollierte Abschaltungen. Das erfolgt in der Regel nachts für maximal wenige Stunden und kann je nach Örtlichkeit mit einer Zwangspause eines großen industriellen Stromverbrauchers getan sein. Die Gefahr eines unkontrollierten Systemkollaps sieht bei denen, die über das Netz wachen, niemand.

Engpässe in Bayern – zu wenig Grün- und Kohlestrom

Die Bundesnetzagentur hat bei den Engpässen vor allem Bayern im Blick, weil im Freistaat vergleichsweise wenig Grünstrom produziert wird und im konventionellen Kraftwerkspark vor allem Gas verfeuert wird. Es mangelt an Ersatzkohlekraftwerken, von denen es in fast allen Bundesländern genug gibt. Ins Stromnetz muss immer und überall exakt so viel Strom eingespeist werden wie aktuell verbraucht wird. Dass in Süddeutschland viele große Industrien sehr viel Strom verbrauchen, es aber an großen Grundlast-Kraftwerken mangelt, macht das dortige Netz anfälliger.

Auch deshalb sind die geplanten Nord-Süd-Trassen von der Küste bis Bayern so wichtig. Über Stromautobahnen, in die große Kohle- und Atomkraftwerke, aber auch Meereswindparks einspeisen und die europaweit vernetzt sind, kann Strom über weite Strecken mit wenig Transportverlust dorthin fließen, wo aktuell zu wenig produziert wird. In Schleswig-Holstein etwa wird allein an Windstrom 160 Prozent dessen produziert, was alle Haushalte und Betriebe des Bundeslandes zusammen verbrauchen.

Stromautobahnen hätten zum Atomausstieg fertig sein sollen

Diesen Grünstrom nicht nur in die Nachbarländer, sondern ganz in den Süden leiten zu können, ist der größte Schlüssel zum Gelingen der Energiewende. Sie sollten punktgenau zum Atomausstieg Ende dieses Jahres fertig sein, werden es aber frühestens 2027. Warum? Weil sich die CSU-geführte Landesregierung jahrelang dagegen gewehrt und so viele Bürger zu Klagen animiert hat.

Ein Streckbetrieb der beiden süddeutschen Akw kann laut Stresstest der Netzagentur in Extremlagen einen Beitrag zur Netzstabilisierung leisten, wenn auch nur einen kleinen. Etwa die zehnfache Menge des eigenen Atomstroms müsste noch importiert werden, ist den Angaben der Übertragungsnetzbetreiber zu entnehmen. Für das dritte, von RWE betriebene Akw im Emsland gibt es in Niedersachsen und dem Norden von NRW genügend alternative Quellen, vor allem Kohle- und in Niedersachsen auch Ölkraftwerke.

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Dennoch würden sich die Netzbetreiber auch über diesen kleinen Beitrag zum Grundlaststrom freuen und wohler fühlen, wenn alle drei Akw im Streckbetrieb in den kalten Wochen nach dem Jahreswechsel noch verlässlich Strom einspeisen. Denn das würde das gesamte, grenzüberschreitende Höchstspannungsnetz ein wenig stabiler und damit weniger anfällig für extreme Wetterlagen machen.

Vor allem Bayern braucht seine Gaskraftwerke noch

Laufen die Akw länger, könnten dafür Gaskraftwerke abgeschaltet werden – theoretisch. Ein Grund ist, dass Gaskraftwerke am schnellsten rauf und runter zu regeln sind, die trägen Akw können ihre Rolle nicht einnehmen. Steinkohlekraftwerke können das, im Verbund mit reaktivierten Kohleblöcken könnten die Akw indirekt einen kleinen Teil des Gasstroms ersetzen helfen. Dass es ein größerer Teil werden könnte, verhindert ebenfalls der bayrische Energiemix: Im Freistaat werden die Gaskraftwerke mangels Kohle in diesem Winter so oder so noch gebraucht.

In den durchgerechneten Extremszenarien wären die Netze in Bayern auf Stromimporte etwa aus Österreich und der Schweiz angewiesen, die eigenen konventionellen Kraftwerke müssten dann ohnehin voll laufen. Die Vorstellung, Deutschland könne mit der Laufzeitverlängerung seiner Akw viel Gas ersetzen, kollidiert mit dieser Zahl der Bundesnetzagentur: Sie sieht ein Einsparpotenzial von 0,1 Prozent, also einem Promille.

An den Tagesstrompreisen ändert Atomstrom fast nichts

Die extrem hohen Tagespreise an der Strombörse ergeben sich aus dem explodierten Gasstrompreis, weil sie sich immer am teuersten Kraftwerk orientieren, das einspeist. So lange noch eine Kilowattstunde Gasstrom ins Netz fließt, ist es für den Tagespreis fast unerheblich, ob die Akw noch laufen oder nicht. Sie drängen vielleicht ein oder zwei Gaskraftwerke aus dem Markt, die am teuersten produzieren, doch der drittteuerste Gasblock wird kaum günstiger sein.

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Viel wichtiger für die Industrie und den langfristigen Einkauf der Endkundenversorger wie Eon sind aber die Preise für in der Zukunft zu liefernden Strom. Da die Märkte bisher mit der Abschaltung der Akw Ende 2022 gerechnet haben, ändert sich durch eine Überführung in die Notreserve nichts. Der Preis für im ersten Quartal 2023 fällige Stromkontrakte sank nach Habecks Ankündigung der Akw-Notreserve am Dienstag bis Freitag sogar von 795 auf 690 Euro je Megawattstunde.

Das Klima-Argument geht in der Debatte unter

Doch umgekehrt könnte ein Weiterbetrieb der Akw diese mittelfristigen Preise etwas senken, weil bei der aktuellen Angebotsknappheit jede zusätzliche Strommenge Entlastung bringt. Laut Eon-Chef Leonhard Birnbaum könnte ein Streckbetrieb „einen signifikanten Effekt“ auf die Preise haben, wie er der „Zeit“ sagte, ohne eine Schätzung abzugeben. Mehrere Energie-Institute haben mögliche Preissenkungen um etwa ein Prozent herum taxiert.

https://www.waz.de/podcast/wirtschaftsreporter/gaskrise-menschen-werden-wieder-nur-einen-raum-heizen-id236247495.htmlStrich drunter: Ein Akw-Streckbetrieb könnte die Netze im Winter etwas stabiler machen, aber auch ohne droht kein Blackout. Er könnte den deutschen Gasverbrauch um ein Promille senken und die Strompreise um rund ein Prozent. Ob das die Aufregung wert ist, muss jeder für sich entscheiden. Das stärkste Pro-Atom-Argument spielt merkwürdigerweise in der Debatte gar keine Rolle: Akw sind weit klimafreundlicher als die Kohlekraftwerke, die jetzt wieder angefahren werden. Für die aus der Anti-Atomkraft-Bewegung stammende Klimaschutzpartei eine Wahl zwischen Pest und Cholera.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen in unserer digitalen WAZ am Sonntag. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen. Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.