Essen. Putins Krieg ist auch ein Schlag gegen die Globalisierung. Dass sie ewigen Frieden stifte, hoffen Philosophen und Ökonomen seit Jahrhunderten.
Freihandel stiftet Frieden. Das glaubte schon Immanuel Kant und spätestens nach dem Fall des Eisernen Vorhangs so ziemlich jeder Wirtschaftsliberale. Russlands Krieg in der Ukraine zerstört diesen Traum einmal mehr. Das jähe Ende des Friedens in Europa markiere auch das Ende der Globalisierung, meinen in diesen Wochen prominente Ökonomen.
„Die Idee eines weltweiten Marktes müssen wir beerdigen“, sagte Gabriel Felbermayr vom Wiener Wifo-Institut der Augsburger Allgemeinen Zeitung. „Die 30 glorreichen Jahre der Globalisierung“ seien vorbei. Die Geschichte lehrt tatsächlich, dass Kriege das Zusammenwachsen des Welthandels immer wieder zurückgeworfen haben. Aber auch, dass die nächste Globalisierungswelle stets umso stärker wurde.
Ob es wieder so sein wird oder der Freihandel seinen Zenit diesmal wirklich überschritten hat? Da russische Raketen ukrainische Krankenhäuser, Kindergärten und Wohnkomplexe in Schutt und Asche legen und Sorgen vor einem dritten Weltkrieg umgehen, ist dies nicht die Zeit für Prognosen. Die langfristigen Folgen des Krieges, der Völkerrechtsbrüche und Massaker sind unabsehbar. Aber der Blick zurück hilft, manchen Zusammenhang einzuordnen.
Ausbeutung und Wohlstandsmehrung
Seit Jahrhunderten steht die Globalisierung mal für Ausbeutung und mal für Wohlstandsmehrung, nach längeren Phasen fortschreitenden Zusammenwachsens der Weltmärkte wurde ihr seit dem 18. Jahrhundert auch der Segen zugesprochen, die Welt friedlicher zu machen. Wer miteinander Handel treibt, sich also bewusst in gegenseitige, gewinnbringende Abhängigkeiten begibt, der führt keine Kriege, so lautete stets die These. Bis zum nächsten Krieg.
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Das war vor den Napoleonischen Kriegen 1803 bis 1815 so, vor dem Ersten Weltkrieg, vor dem Vietnamkrieg. Der globale Warenhandel hatte jeweils stark zugenommen, im 18. Jahrhundert vor allem die Kolonialmächte wachsen lassen, im 19. Jahrhundert in Verbindung mit der Industrialisierung in Westeuropa und England auch den Wohlstand der Bevölkerung gehoben, ebenso den der Handelspartner in Asien und Amerika. Die Kriege lösten über die beteiligten Länder hinaus jedes Mal lange Wirtschaftskrisen aus.
Chinas Dämpfer für den Welthandel
Auch der Krieg in der Ukraine hat weltweite Auswirkungen, er hat die durch die Pandemie entstandene Energiekrise schon nach wenigen Wochen dramatisch verschärft. Ökonomen rechnen mit einer Rezession mindestens in Europa, wenn der Krieg nicht bald endet und es zu einem Gasembargo kommt. So oder so beendet er bis auf Weiteres den Handel mit Russland, dessen Wirtschaft aufgrund der Sanktionen bereits schrumpft, das Land des Aggressors Putin steht vor dem Staatsbankrott.
Nun ist Russland nicht das Drehkreuz der Globalisierung, aber China – die einzige Wirtschaftsweltmacht, die Putins Krieg bisher nicht verurteilt. Und Peking hatte der Globalisierung bereits vor dem Krieg mehrere Dämpfer verpasst: Die Null-Covid-Strategie geht einher mit regelmäßigen Schließungen ganzer Städte und Häfen, was die Lieferketten weltweit bis heute hat reißen lassen. Chinas neuer 2021 aufgestellter Fünf-Jahres-Plan hat zudem die Parole ausgegeben, mehr Qualitätsprodukte allein herzustellen, unabhängiger von Importen zu werden und weniger Fabriken in China mit ausländischen Partnern zu betreiben. Das war ein Schock für den Westen, Ökonomen sehen darin einen Angriff auf den Welthandel, der Exportnationen wie Deutschland besonders hart trifft.
Trump schreckte die westlichen Partner
Schon vor dem Krieg tendierten große Wirtschaften auf allen Kontinenten eher zu neuer Abschottung als zu mehr Freihandel, in den USA ebenso wie in Indien und Brasilien. Wachsender Nationalismus war stets der Auslöser für neuen Protektionismus, Donald Trump verschreckte mit seinem „America first“ die westlichen Partner, diente anderen zum Narzissmus neigenden Staatsführern wie Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro dagegen eher als Vorbild. „Spätestens seit dem Wirtschaftskrieg des Donald Trump und der Invasion der Russen ist klar, dass vermutlich ein neuer Eiserner Vorhang zwischen dem Westen und dem russischen Einflussgebiet herabgelassen wird“, folgert der Weltwirtschaftsexperte Felbermayr.
Was passiert, wenn Kriegsfürsten nicht den Handel, sondern ihr Territorium ausweiten wollen, wusste schon der schottische Philosoph Adam Smith, als er 1776 in „The Wealth of Nations“ schrieb, dass die „Umwälzungen von Krieg und Herrschaft nur allzu leicht die Quellen jenes Wohlstands austrocknen, der allein aus dem Kommerz entsteht“. Smith, Vater der klassischen Nationalökonomie, war ein glühender Verfechter des freien, grenzenlosen Handels und sah in Protektionismus und Imperialismus seine größten Gefahren.
Die Globalisierung in Quarantäne
Doch bisher hat kein Krieg den Freihandel beendet, wie wir im Amazon-Zeitalter wohl mit einiger Gewissheit sagen können. Überall und jederzeit weltweit verfügbar sind viele Waren derzeit zwar nicht mehr, was direkte Folgen der Pandemie und des Ukraine-Krieges sind. Die Lieferketten werden wieder zusammengesetzt, ihr globales Netz aber womöglich lichter denn dichter. Davon gehen Ökonomen aus, sollte es nach dem blutigen zu einem weiteren kalten Krieg zwischen Ost und West kommen. Damit ginge dann auch die These von der Frieden-stiftenden Globalisierung für längere Zeit in Quarantäne.
Es wäre nicht das erste Mal. „Noch vor zehn Jahren gab es eine Hoffnung, dass Kriege, unter dem Einfluss des Handelsverkehrs (...) für immer aufhören werden“, lautet ein Zitat, das anno 2032 im Rückblick auf den Ukraine-Krieg passen würde. Dieses stammt vom englischen Kardinal und Vordenker John Henry Newman aus dem Jahre 1864. Der russisch-türkische Krimkrieg von 1853 bis ‘56 hatte eine lange Zeit vergleichsweise friedlichen Miteinanders in Europa nach den napoleonischen Kriegen beendet. Es war der erste von industriellen Waffen und Propagandaschlachten geprägte Krieg. Massaker auf beiden Seiten brachten auch unzähligen Zivilisten den Tod. Die demütigende Niederlage der Russen am Schwarzen Meer sollte das Fanal für die Aufrüstung des Riesenreiches werden und den Kampf um die Krim zur ewigen Pflicht der in Moskau Herrschenden machen. Ihr damals entwickeltes Misstrauen gegen die Westmächte (Frankreich und England kämpften an der Seite der Türken) prägt bis heute die russische Außenpolitik.
Die süßen Träume der Philosophen
Den Wohlstand ihres Volkes stellten und stellen eben nicht alle Staatsführer über ihre Machtausweitung. Dass es deshalb global geltende Gesetze brauche, betonte Immanuel Kant bereits 1795 in seinem Manifest eines weltumspannenden, Handel treibenden und deshalb friedlichen Föderalismus. Er entwickelte Regeln für ein Völkerrecht, das den Handel fördert und Kriege verhindert. Dies unter dem satirischen, weil dem Namen eines holländischen Wirtshauses entlehnten Titel „Zum ewigen Frieden“. Dabei war es Kant bierernst. „Es ist der Handelsgeist, der nicht mit dem Kriege zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volkes bemächtigt“, glaubte er. Hoffte er. Dies mit dem Blick in eine eher weite Zukunft, denn ob seine Schrift die Staatsoberhäupter seiner Zeit, „die des Krieges nie satt werden können“ erreiche, oder nur die Philosophen, „die jenen süßen Traum träumen“, stellte er selbst infrage.
Um die „Bösartigkeit der menschlichen Natur“ zu bändigen, stellte er Verhaltensregeln für die Völker der Welt auf, und zwar auch für den Kriegsfall. Die sechste lautet: „Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen“. Was Kant dann als Tabus aufzählt, kommt Kreml-Beobachtern nach zwei Dekaden Putin grausam vertraut vor: „Anstellung der Meuchelmörder, Giftmischer, Brechung der Kapitulation, Anstiftung des Verrats in dem bekriegten Staat“. Denn derlei führe zum „Ausrottungskrieg“, der einen unheilbaren Vertrauensbruch hinterlasse.
Zwei Jahrhunderte später fragt sich die westliche Welt, wie sie nach den Massakern von Butcha und in anderen ukrainischen Städten je wieder mit Russland reden soll.