Essen. Sie sind umstritten, weil sie Schwimmern zu Fabel-Weltrekorden verhelfen, die ohne Hilfsmittel nie möglich wären: die neuen Schwimmanzüge. Ex-Weltmeister Christian Keller hat ein High-Tech-Exemplar getestet. Sein Fazit: "Der absolute Hammer!"
Nach 20 Metern hört Christian Keller auf zu kraulen und klettert aus dem Wasser. 20 Meter, dafür braucht der frühere Kurzbahn-Schwimm-Weltmeister knappe zehn Sekunden. Zehn Sekunden, die ihm nach 30 Jahren im Schwimmsport ein ganz neues Gefühl beschert haben. Ein Aha-Erlebnis auf 20 Metern, das ihm während seiner Karriere auf Tausenden Trainingskilometern versagt geblieben war. „Das ist der absolute Hammer”, sagt der 36-jährige Essener, nachdem er erstmals einen dieser neuen sogenannten Wunderanzüge testete. „Du meinst, es hebt dir jemand die Beine hoch und schiebt dich gleichzeitig kräftig an. Ein irres Gefühl”, beschreibt Keller seine Eindrücke.
Thema Nummer eins
Des Schwimmers neue Kleider sind das Thema Nummer eins vor den Schwimm-Weltmeisterschaften, die am heutigen Freitag in Rom mit dem Kunstspringen der Männer vom Ein-Meter-Brett beginnen. Auch Keller wird im Foro Italico dabei sein. Als ZDF-Experte wird der viermalige Olympiateilnehmer, der 2004 seine Karriere beendete, dann den Fernsehzuschauern auch über seine Erfahrungen erzählen, die er als Tester des neuen Schwimm-Anzugs für diese Zeitung sammelte. „Es wird bei der WM eine weitere Flut von Weltrekorden geben”, ist Keller sicher.
Über 100 Weltrekorde
Seit einem Jahr ist im Schwimmsport nichts mehr so, wie es vorher war. Seit der Entwicklung der neuesten Generation von High-Tech-Anzügen wird ein Rekord schneller gebrochen, als ein Brot schimmelig wird. Im Jahr 2008 wurden weit über einhundert Weltrekorde aufgestellt. Im August des vergangenen Jahres fiel Christian Keller bei den Sommerspielen in Peking Federica Pellegrini auf. Nicht nur, weil die Italienerin eine ausgesprochen hübsche junge Frau ist, sondern weil sie eine ganz neue Art von Anzug trug. Keller bat seinen alten Kumpel Luca Sacchi, Pellegrinis Berater, einen Blick auf das auffällige Modell werfen zu dürfen. „Nur gucken, nicht anfassen”, warnte ihn Sacchi so, wie es Simone Thomalla gegenüber Rudi Assauer tat.
Die Zeiten der Heimlichkeiten sind vorbei. Inzwischen weiß man, dass Pellegrini bei ihrem Olympiasieg über 200 Meter Freistil in einem Modell der italienischen Firma Jaked schwamm. Mittlerweile gibt es über 400 verschiedene Modelle von 26 Sportartikelfirmen. Ohne die schnelle Pelle geht nichts mehr. Wer in Rom in einer normalen Badehose statt in einem mit Polyurethan beschichteten Anzug antreten würde, käme über die Rolle eines Beckenrandschwimmers nicht hinaus. Die neuen Kleider verringern den Wasserwiderstand und geben Auftrieb. „Es ist, als ob du auf einer Luftmatratze schwimmst”, sagte Doppel-Olympiasiegerin Britta Steffen, als sie bei den Deutschen Meisterschaften den Weltrekord über 100 Meter Freistil verbesserte, „normalerweise stirbt man ab 80 Metern. Mit so einem Anzug bleibst du frisch bis zum Anschlag.”
Anzug-Wirrwarr
Steffen schwimmt in einem Adidas-Modell. Heute werden ihre Anzüge in Rom wie die aller Teilnehmer geprüft und dann bis zum Wettkampf mit einer Plombe versehen. Nach dem Wirrwarr der vergangenen Wochen, in denen Modelle erst verboten und dann wieder erlaubt wurden, hat der Weltverband entschieden, dass jeder Anzug für jeden Schwimmer zugänglich sein muss. Einige nationale Verbände und einzelne Sportler haben allerdings Verträge mit Ausrüstern, so dass sie nicht so einfach zu einem tauglicherem Modell wechseln können.
Das Thema High-Tech-Anzüge spaltet die Schwimm-Welt. Die einen wie der Essener Trainer Henning Lambertz sagen, endlich interessiere sich die Industrie für den Schwimmsport, und in der Formel 1 oder im Skisport gebe es auch verschiedene Hersteller. Andere wie Europameister Helge Meeuw oder Europarekordler Paul Biedermann wünschen sich die Zeiten der guten, alten Badehose herbei. Meeuw spricht abschätzig von Plastikmüllbeuteln, Biedermann erwartet einen „Zirkus” in Rom. Starten werden aber auch sie in den neuen Kleidern, weil sie sonst nicht konkurrenzfähig sind.
Für unsereins sind die Wunderanzüge nicht geeignet. Erstens kosten sie 400 Euro, zweitens braucht man viel Zeit und Kraft, um sich in sie hineinzuzwängen. Christian Keller war bei unserem Test nach 30 Minuten wettkampfbereit. Noch muskulösere Burschen müssen mit einer Stunde rechnen und zwei Helfer zur Seite haben. Mit ganz kurzen Fingernägeln. Denn das hauchzarte Material reißt so schnell wie eine Strumpfhose. Und Titelträume sollen nicht schon beim Anziehen platzen.