München. Er war der “Nachzügler“, ein “aufgewecktes Kerlchen“ - so erzählt Brigitte Böhnhardt von ihrem Sohn Uwe. Die Mutter des mutmaßlichen NSU-Terroristen ist als Zeugin vor Gericht geladen. Es wirkt, als versuche sie, ihren Sohn zu rehabilitieren. Als eigentlichen Schuldigen sieht sie den Staat.

Meist, wenn ein Zeuge aussagt, pflegt sich die Hauptangeklagte öffentlich zu langweilen. Beate Zschäpe starrt dann stundenlang auf ihren Laptop, auf den Schreibtisch, auf die Wand. Die Menschen, die ihr schräg gegenüber sitzen, und ihre Aussage machen, scheinen sie bis auf wenige Ausnahmen nicht zu interessieren – zumal dann, wenn das, was sie sagen, eher unangenehm ist.

Am Dienstagvormittag ist das anders. Mal stützt Beate Zschäpe ihren Kopf auf die Hand, mal verschränkt sie die Arme, doch fast immer schaut sie Brigitte Böhnhardt an, die seit mehr als einer Stunde von ihrem Uwe erzählt, dem „Nachzügler“, dem „aufgeweckten Kerlchen“, der dann, viel später, zum mutmaßlichen Mörder und Terroristen wurde.

Zentrale Figur in den Ermittlungen

Es ist der 57. Verhandlungstag in einem der umfänglichsten Prozesse der deutschen Geschichte. Neun der zehn Morde, um die es vor allen anderen Taten geht, sind mehr oder minder abgearbeitet, auch die Brandstiftung und damit verbundenen Mordversuche, die Zschäpe vorgeworfen werden. Nun beschäftigt sich der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts damit, was in der Sprache der Juristen das Umfeld genannt wird.

Brigitte Böhnhardt gehört für das Gericht zum „Umfeld Angeklagte/NSU“, sie gilt als zentrale Figur in den Ermittlungen. Nicht nur, dass sie die Mutter von Uwe Böhnhardt ist, der zusammen mit Uwe Mundlos und Beate Zschäpe eine terroristische Vereinigung gebildet haben soll: Sie traf sich heimlich mehrere Male bis 2002 mit dem untergetauchten Trio in Sachsen, also in einer Zeit, in der die Verbrechensserie längst begonnen hatte.

Manfred Götzl, der Vorsitzende Richter, hat deshalb keine anderen Zeugen für diesen Tag geladen. Er gibt der Mutter viel Zeit, zu erklären, wie aus ihrem Sohn ein rechtsextremistischer Krimineller wurde. Und so berichtet Brigitte Böhnhardt davon, wie Uwe ab der 5. Klasse „Probleme bekam“, wie in er der 6. sitzen blieb, und wie dann, nach der Wende, „die Klassen auseinander gerissen wurden“.

"Der Beate noch heute dankbar"

Nach der Thüringer Schulreform im Sommer 1991, als die besseren Schüler aufs Gymnasium gingen, und die schlechteren auf die Haupt- und Regelschule, habe Uwe zu schwänzen begonnen, worüber sie als Eltern nicht einmal informiert worden seien.

Das, was dann geschieht, schildert die Mutter als Folge dieser Entwurzelung: Förderschule, Schwänzen, Kinderheim, Schwänzen, dann die ersten Diebstähle, Prügeleien und schließlich, mit 15, die erste, viermonatige Haftstrafe, im Gefängnis Hohenleuben. „Wir waren am Ende, wussten nicht weiter“, sagt Brigitte Böhnhardt. Überall sei sie gewesen, in den Schulen, bei den Behörden, in den Gerichtsverhandlungen. Nirgendwo habe man ihr geholfen.

Nach der Haft allerdings schien sich ihr Sohn zu fangen. Er absolvierte ein Berufsvorbereitungsjahr und eine Bauarbeiterlehre mit der Note „Gut“. In dieser Zeit lernte Brigitte Böhnhardt auch die neuen Freunde von Uwe kennen: Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Ralf Wohlleben, alles „junge, höfliche Leute“, die „wir mochten“. „Der Beate“, sagt sie, sei sie „noch heute dankbar“, dass sie Uwe aufnahm, als die Plattenbauwohnung in Jena-Lobeda, in der er mit seinen Eltern wohnte, saniert wurde.

Wenig Bedauern

Dann aber, 1996, kam die Arbeitslosigkeit. Uwe habe nur kurzzeitig Jobs gefunden, sei einmal auf eine Drückerkolonne herein gefallen, bis dann schließlich 1997, „die nächste Anklage kam“. Worum es dabei gegangen sei, davon habe er ihr Uwe wenig erzählt, er habe ihnen „wohl nicht wehtun“ wollen.

Die Mutter redet über ihren Sohn in einem Ton, wie Mütter in der Regel von ihren Söhnen reden: liebevoll, verständnisvoll, verzeihend. Sie schildert ihn als Opfer der Umstände und ja, auch der Polizei, die bei ihm während der Durchsuchungen immer wieder Dinge fanden, die zuvor nicht dagewesen seien.

Je länger die Zeugin redet, um so deutlich wird, welche Chance sie an diesem Tag verpasst. Sie könnte ihre eigenen Aussagen in den Kontext der Verbrechensserie einordnen und Empathie gegenüber den Opfern zeigen. Zwar hatte Brigitte Böhnhardt schon im Fernsehen die mutmaßlichen Taten ihres Sohnes glaubhaft bedauert. Doch im Gerichtssaal ist davon wenig zu spüren. Es wirkt fast so, als ob es ihr nur darum geht, den Sohn so gut es geht zu rehabilitieren – und sich automatisch mit.

Dass Uwe Böhnhardt unter ihren Augen zum Rechtsextremisten wurde, dass er NS-Denkmäler schändete, in einer braunen Uniform durch Buchenwald marschierte und schließlich eine menschengroße Puppe mit Davidstern und er Aufschrift „Achtung Bombe“ an einer Autobahnbrücke aufhängte: Das alles ist ihr von sich aus keine Erwähnung wert, obwohl Dutzende Anwälte der Opfer der NSU-Verbrechen hinter ihr im Saal sitzen.

Der eigentlich Schuldige: der Staat

Erst viel später, auf Nachfragen, erzählt die Mutter davon, wie ihr Sohn in einem „schleichenden Prozess“ in die rechte Szene abgeglitten sei – und wie sie ohnmächtig dieser Entwicklung gegenüber gestanden habe. „Er plapperte Parolen nach, die ihm irgendwelche Hohlköpfe eingetrichtert hatten.“ Sie habe das zwar nicht akzeptiert, mit ihm des Öfteren „hart gestritten“ und rechtsextremistische Sprüche oder Materialien daheim verboten. Doch gebracht habe dies alles nichts.

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Wer ist also verantwortlich zu machen? Die „rechten Rattenfänger“, von denen sie spricht, oder doch ihre Drei ganz allein? Spätestens, als die Brigitte Böhnhardt in ihrem Bericht zu der Flucht im Januar 1998 gelangt, wird deutlich, wen sie als eigentlichen Schuldigen sieht: den Staat.

Der Sprengstoff in der Garage, die Beate Zschäpe angemietet hatte? Womöglich untergeschoben. Die Ermittlungsprotokolle? Gespickt mit „glatten Lügen“. Die Fahndung? Die Polizei wollte ihren Sohn töten.

Eltern hielten sich an Regeln der Konspiration

So hatte es Brigitte Böhnhardt schon im Juni vor dem NSU-Untersuchungsausschuss im Thüringer Landtag gesehen haben wollen, und so hatte es dort auch der Vater von Uwe Mundlos kürzlich formuliert. Schließlich, sagt die Mutter, habe ja der Verfassungsschutz erst über einen Anwalt angeboten, bei einer Rückkehr der Drei die Strafe abmildern zu lassen – und dann dieses Angebot wieder zurück gezogen. Wenn die Behörden „zu ihrem Wort gestanden“ hätten, „dann wäre das alles nicht passiert“.

Es ist nicht das einzige Mal, dass Brigitte Böhnhardt behauptet, dass die Ermittler die Verbrechen erst ermöglichten. Allerdings besteht genau dieser Vorwurf auch gegen die Eltern, die offenbar als einzige Angehörige jahrelang Kontakt zu den Untergetauchten hielten.

Richter Götzl interessiert sich bei seinen Nachfragen besonders für die Kontakte, die Brigitte Böhnhardt nach der Flucht mit dem Trio aufbaute. Nach etlichen Telefonaten kam es zu mehreren Treffen in Chemnitz bis ins Jahr 2002. Die Eltern hielten sich an der Regeln der Konspiration: Sie benutzten verschiedene Telefonzellen, benutzten Codewörter bei der Übergaben von Geld an Boten (Parole „Rippchen“) und nahmen bei den Fahrten nach Sachsen einen Mietwagen.

Bei den Treffen, sagt die Mutter, hätten sie und ihr Mann immer wieder auf die Flüchtigen eingeredet, sich zu stellen. „Wir haben das nicht verstanden, was so schön daran sein soll, im Untergrund zu leben“. Schließlich, im Frühjahr 2002, hätte das Trio mitgeteilt, dass man sich von nun an nicht mehr sehen könne. Sie sei geschockt gewesen. Am Ende bat sie Uwe Mundlos, auf ihren Sohn acht zu geben. „Ja“, habe dieser erwidert, „ich passe auf.“

Am 4. November 2011, im Wohnwagen in Eisenach, war es laut dem offiziellen Ermittlungsstand Uwe Mundlos, der erst Uwe Böhnhardt und dann sich selbst erschoss.