Warum der nächste Bundestag sogar 800 Sitze haben könnte
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Essen/Duisburg. . 620 Abgeordnete sitzen derzeit im Bundestag. Nach der Bundestagswahl am 22. September könnten es Dutzende mehr werden. Theoretisch sogar unbegrenzt. Grund ist die Reform des Wahlgesetzes. Die hat das Umrechnen der Wählerstimmen auf die Sitzzahl im Parlament gerechter gemacht - und sehr kompliziert.
Es könnte so einfach sein: Wenn alle Wähler in Deutschland bei der Bundestagswahl am 22. September nur eine Stimme hätten, dann müsste es doch ganz einfach sein, die Prozentwerte der Parteien auf die Sitze im Parlament umzurechnen. Müsste es tatsächlich? Leider nein. Wie man es auch dreht: Die Bundestagswahl ist eine mathematische Herausforderung.
Wahlgesetz ist nicht einfacher geworden, obwohl es das sollte
Gerechter wohl, aber einfacher nicht. Obwohl das auch die Aufgabe an den Gesetzgeber war. Wenn am 22. September der neue Bundestag gewählt wird, wird die Sitzverteilung im Parlament erstmals nach einem neuen Weg errechnet. Der Grund: Das Bundesverfassungsgericht hatte im Juli 2012 entschieden, dass das geltende Wahlrecht unter anderem wegen der Überhangmandate nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Diese Mandate entstehen, wenn eine Partei mehr direkt gewählte Abgeordnete hat, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Damit das Mehrheitsverhältnis im Parlament dennoch stimmt, werden mit jedem Überhangmandat für eine Partei den anderen Parteien Ausgleichsmandate zugeschlagen. Dabei aber konnte es bis dato soweit kommen, dass Parteien Sitze im Bundestag verloren haben, weil sie vor Ort ein Stimmenplus erreicht hatten - dieses "negative Stimmgewicht" kritisierte Fehndrich als "absurd".
"Das nun geltende neue Wahlgesetz ist ein neuer Versuch zur Lösung eines Problems, das so alt ist wie die Bundesrepublik", erklärt Martin Fehndrich. Nach wie vor "wollen bei der Bundestagswahl zwei unterschiedliche Prinzipien in Einklang gebracht werden - Personen- und Verhältniswahl". Denn: Die Hälfte aller Bundestagssitze soll an diejenigen gehen, die in einem der Wahlkreise die Mehrheit der Erststimmen erhalten. Die Gesamtzahl der Sitze für eine Partei soll dem Anteil der Zweitstimmen nach verteilt sein. Rechnerisch ist das ein Konflikt.
Wie die Sitzzahl im Bundestag jetzt errechnet wird
"Das Gesetz löst diesen Konflikt, indem es in Kauf nimmt, dass die Inhaber der Direktmandate weniger, möglicherweise weit weniger als die Hälfte der Abgeordneten stellen", erläutert Martin Fehndrich. So werden im neuen Bundestag mehr als die eigentlich vorgesehenen 598 Mitglieder sitzen. "Der Größenzuwachs ist theoretisch unbegrenzt", sagt Fehndrich. "200 zusätzliche Sitze und mehr sind, zumindest bei zukünftigen Wahlen, keineswegs abwegig."
Die so errechneten Mandate sind laut Fehndrich allerdings nur eine "Pseudositzzahl", weil sie nur für den nächsten Rechenschritt nötig sind - so will es jedenfalls das Wahlgesetz. "Für jede Partei werden ihre Pseudositzzahlen aus allen Bundesländern zur "Mindestsitzzahl" zusammengezählt; das heißt, zu der Zahl an Sitzen, mit der jede Partei mindestens im Bundestag vertreten sein muss." Diese Zahl aber entspricht nicht der proportionalen Verteilung der Zweitstimmen. Deshalb muss der Bundestag sozusagen "aufgepumpt" werden. Aber wie geht das?
Das neue Wahlrecht hat ein großes Manko
"Die Größe des Bundestages wird nun so erhöht, dass jede Partei mindestens ihre Mindestsitzzahl erhält und zugleich der Proporz zu den Zweitstimmen eingehalten wird", erläutert Fehndrich. Das heißt: Für Überhangmandate erhalten die anderen Parteien Ausgleichsmandate - Fehndrich: "Das können zwei Sitze sein oder sogar 20 je Überhangmandat". Die so ermittelten Sitze einer Partei werden unter Verrechnung der Direktmandate auf ihre Landeslisten verteilt, aus denen die Bundestagskandidaten in den Bundestag ziehen, die kein Direktmandat geholt haben.
Dass sich der Bundestag auf bisher ungeahnte Größe ausweiten kann, liegt an einer mathematischen Notwendigkeit der Wahlrechtsänderung, erklärt Fehndrich: "Wenn zum Beispiel eine 5-Prozent-Partei Überhangmandate bekommt, dann muss eine 30-Prozent-Partei sechs Ausgleichsmandate erhalten, damit das Mehrheitsverhältnis unter den Parteien im Parlament erhalten bleibt". Laut Fehndrich könnte in einem solchen Fall ein Überhangmandat für eine kleine Partei bis zu 19 andere Abgeordnete auf Ausgleichssitzen mit sich ins Parlament ziehen.
Ohnehin steckt im Gesetz ein - mathematisch - großes Manko. Die Verteilung der Bundestagsmandate gehe nämlich nur so lange "einigermaßen gut, wie bei den Wählern die Präferenz für einen Kandidaten und die für seine Partei im Wesentlichen zusammenfallen". Das aber sei "bei der gestiegenen Anzahl der Parteien und der zunehmenden Neigung der Wähler, beide Stimmen unabhängig voneinander zu nutzen, immer weniger der Fall", kritisiert Fehndrich.
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