Berlin. . Eine Studie der Universitäten Münster und München scheint jetzt Vorurteile gegenüber der Nutzung von Social-Media-Kanälen der Parteien zu widerlegen. Die Forscher haben die Inhalte von Twitter- und Facebook-Posts analysiert und kommen zum Fazit: Beide seien keine “reine Meckerecke“ mehr.

Ausgewogen und vielfältig, nicht mehr nur links und anarchisch, so präsentiert sich das Internet nach Ansicht von Forschern zwei Wochen vor der Bundestagswahl. Die etablierten Parteien, die in den vergangenen Monaten vor allem soziale Medien wie Twitter oder Blogs mit Eifer bespielten, haben dort vergleichbar starke Präsenz erreicht. Doch die Piraten stehlen nach einer am Dienstag veröffentlichten Studie vor allem auf Twitter der etablierten Konkurrenz weiter die Show. Der Debattenton in der virtuellen Welt wird dabei zivilisierter: Von einer reinen "Meckerecke Internet" könne nicht mehr die Rede sein, sagt Studienautor Christoph Neuberger.

Bei der letzten Bundestagswahl spielten das Internet und soziale Medien noch kaum eine Rolle. Das hat sich gründlich geändert: Umfragen zufolge informieren sich heute etwa zwei Drittel der Bürger im Netz über Politik; bei den jüngeren Wählern ist dieser Anteil besonders hoch.

Und auch wenn Tweets und Apps der Parteien bislang nur von einer Minderheit genutzt werden, haben diese in diesem Wahlkampf massiv in ihre Netzauftritte und Aktivitäten bei sozialen Medien investiert: Merkel informiert auf Facebook über ihre Wahlkampfauftritte, Steinbrück spricht "Klartext" auf Youtube, Umweltminister Peter Altmaier (CDU) reagiert auf Twitter fast auf jede Anfrage. Erhebungen zufolge hatten im Juli 90 Prozent aller 620 Abgeordneten ein Profil in mindestens einem sozialen Netzwerk.

Mollath, Veggie Day, Pädophilie-Debatte sind netzpolitische Aufreger

Doch zahlt sich die Aktivität in der virtuellen Welt auch aus? Der Münchner Kommunikationsforscher Neuberger und der Wirtschaftsinformatiker Stefan Stieglitz von der Uni Münster haben eine Million Twitter-Kurznachrichten und 1700 politische Blogs aus der Zeit von Mai bis August untersucht. Ein vorläufiges Fazit ihrer Untersuchung: Nutzer der sozialen Medien interessieren sich besonders für netzpolitische Aufreger wie die Spähaffäre - und die Parteien werden mit bestimmten, für sie nicht immer angenehmen Themen verbunden.

So werde die CSU häufig im Zusammenhang mit der Affäre um den ehemaligen Psychiatriepatienten Gustl Mollath genannt, die Grünen mit dem "Veggie Day" und der Pädophilie-Debatte. Ein Grund dafür ist nach Angaben der Forscher möglicherweise, dass die Parteien die sozialen Medien verstärkt nutzen, um die politische Konkurrenz anzugreifen. Bei der CDU herrsche indes "Themenebbe", konstatierten die Forscher. Die Partei werde am häufigsten im Zusammenhang mit Merkel genannt. Die Debatten sind aber auch schnelllebig: "Auf Twitter wird jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf getrieben", sagt der politische Blogger Jens Berger.

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Als Spiegel der Wählerstimmu ng in der echten Welt will Neuberger die - nicht repräsentativen - Resultate nicht bewerten: "Wir haben es noch mit relativ kleinen Gruppen von Nutzern zu tun" - auch wenn diese oft politisch Aktive oder Journalisten seien, die stark zur öffentlichen Meinungsbildung beitrügen.

Zeit der "Shitstorms" scheint zu Ende zu gehen

Immerhin scheint die Zeit der unflätigen Beschimpfungen in ausufernden "Shitstorms" zu Ende zu gehen: In den sozialen Medien dominierten sogar im Zusammenhang mit etablierten Parteien zunehmend auch "positive Botschaften" und weniger extreme Positionen, sagt Neuberger. Blogger Berger findet dieses Ergebnis überraschend: Um in sozialen Medien etwas Positives über Union, FDP oder Merkel zu finden, "muss ich schon lange suchen".

Die Forscher Stieglitz und Neuberger räumen ein, dass ihre Analyse der sozialen Mediengeschehens mit einer Software mitunter Probleme hat, ein Lob für Politiker von Sarkasmus und Ironie zu unterscheiden. Dabei sind genau dies die bevorzugten Stilmittel der sozialen Netzgemeinde: Dies bekam erst kürzlich Merkel zu spüren, als ihre Äußerung "Das Internet ist für uns alle Neuland" im Zusammenhang mit der Spähaffäre im Netz tausendfach in Foto- und Textmontagen spöttisch kommentiert wurde.

Kürzlich beim TV-Duell mit Peer Steinbrück bekam die Kanzlerin erneut die Lust der Netzgemeinde am Spott zu spüren: Unter dem Twitter-Account @schlandkette kommentierte ein unbekannter Nutzer ironisch das Geschehen aus Sicht ihrer auffälligen Halskette in den Farben Rot, Gold, Schwarz. Der politische Streit über Maut und Pensionen schien plötzlich nicht mehr so wichtig. (afp)