Witten. Der Terrorangriff der Hamas war eine Zäsur. Antisemitische Übergriffe nehmen zu. Wie erlebt man als Jüdin diese Zeit? Wir haben nachgefragt.
Debora empfängt uns in ihrer Wohnung in Witten. Eigentlich heißt die Seniorin gar nicht so. Doch ihre Identität möchte sie um jeden Preis schützen. Auch deshalb dürfen in diesem Artikel keinerlei Informationen vorkommen, die Rückschlüsse auf ihre Person zulassen könnten. Zu groß ist ihre Angst. Debora ist Jüdin.
Seit ihrer Teenagerzeit lebt Debora in Deutschland und der Ruhrstadt. Doch wirklich angekommen ist sie nie. Auch wenn sie der BRD viel zu verdanken habe: „Ich habe keine Heimat“, sagt sie. In den letzten Wochen vielleicht weniger als je zuvor. Fragt man sie, wie es ihr gehe, bricht ihre Stimme bei der Antwort: „Nicht gut.“ Sie fühle sich sehr instabil, sei vorsichtig, zurückgezogen. Auch Freundschaften würden auf dem Prüfstand stehen.
Nur zwei aufmunternde Nachrichten nach Hamas-Massaker
Denn die Reaktionen, die sie nach dem barbarischen Massaker der Hamas im Süden Israels am 7. Oktober mit 1200 Todesopfern von Freunden und Bekannten hier erhalten habe, seien „sehr enttäuschend“ gewesen. Lediglich zwei Freunde hätten sich mit aufmunternden Worten gemeldet. Von einer anderen Bekannten kam der Kommentar: „Gaza ist ein KZ.“ „Warum schreibt man mir so etwas?“, ist Debora noch immer fassungslos.
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Mit dem anschließenden Beginn der israelischen Militäroffensive wurde es nicht besser. So erhielt sie etwa auch Links auf Texte von jüdischen Intellektuellen geschickt, die sich gegen den Krieg positionieren. „Als wären wir alle kriegsgeil.“ Es schmerzt die betagte Frau, dass das Judentum als „Rachereligion verschrien“ sei. „Dabei haben wir die Feindesliebe erfunden.“
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Wittener Jüdin: „Wir sind alle sekundär traumatisiert“
Aber, so die Rentnerin weiter: „Wie wollen Sie mit jemandem Frieden schließen, der Sie vernichten will?“ Israel müsse sich verteidigen. Den derzeitigen Einsatz von Bodentruppen und Panzern innerhalb des Gazastreifens lehnt sie aber strikt ab. „Man kann nicht, um fünf Hamas-Kämpfer zu töten, 1000 Zivilisten in Gefahr bringen. Ich war von vorneherein dagegen.“ Aber den medialen Krieg der Bilder, den habe Israel ohnehin schon verloren.
Gleichzeitig habe sie die Brutalität der Taten der Hamas schockiert – und dass die Täter ihre Gräuel auch noch in Videos dokumentierten und sich dafür feiern lassen. Nicht einmal die Nazis hätten so etwas getan, sagt Debora. „Wir sind jetzt alle sekundär traumatisiert durch diese Bilder.“ Sie selbst hat nie in Israel gelebt. „Aber das Land ist mir wichtig, weil es eine Art Zufluchtsort ist.“
Nicht mehr in die Synagoge getraut
Die ersten Tage nach dem Angriff habe sie sich nicht in die Synagoge nach Dortmund getraut – aus Angst vor einem Nachahmungstäter. Dortmund ist die Anlaufstelle für Wittener Jüdinnen und Juden, da es in der Ruhrstadt seit der NS-Zeit keine eigene Gemeinde mehr gibt. Verloren hat Debora bei dem Angriff niemanden, doch sie ist in ständiger Sorge um eine Verwandte und Bekannte in Israel.
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Wirklich sicher gefühlt hat die Jüdin sich in Deutschland eigentlich nie. In den 90er-Jahren lag einmal zu Weihnachten ein Drohbrief im Briefkasten, in dem sie rassistisch beschimpft und dazu aufgefordert wurde, das Land zu verlassen. „Das hat mich geprägt“, sagt sie.
„Wo wir uns sicher fühlen, werden wir bedroht“
Auch der versuchte Anschlag auf die Synagoge in Halle oder die Schüsse auf die Alte Synagoge in Essen Ende 2022 haben Spuren bei ihr hinterlassen. „Dort, wo wir verkehren, uns wohl fühlen, dort werden wir bedroht.“ Für die Schüsse auf die Synagoge in Essen wurde ein Deutsch-Iraner verhaftet, er soll weitere antisemitische Taten geplant haben. „Ich war immer für den Zuzug von Flüchtlingen. Aber jetzt möchte ich keine muslimischen Männer mehr hier aufnehmen“, sagt Debora.
Acht Personen mit israelischem Pass in Witten
Wie viele Jüdinnen und Juden überhaupt derzeit in Witten leben, lässt sich nicht sagen, da die Verwaltung keine Daten zur Religionszugehörigkeit erfasst. Aktuell sind aber acht Personen hier ansässig, die entweder die israelische oder die deutsch-israelische Staatsbürgerschaft besitzen.
Die jüdische Gemeinde Dortmund ließ unsere Anfrage nach einem Gesprächspartner unbeantwortet. Ebenso unsere Frage, wie viele Gemeindemitglieder aus Witten zur Synagoge in die Nachbarstadt kommen.
Martina Kliner-Fruck, Stadtarchivarin und Mitglied im deutsch-israelischen Freundeskreis, verweist auf die Angst vor dem immer noch latent vorhandenen und mittlerweile offen ausgetragenen Antisemitismus unter hier wohnenden Nachfahren von Verfolgten des Holocausts. Diese wollten deshalb um jeden Preis ihre Identität schützen. Manche Nachfahren würden deshalb auch Stolpersteine vor ihren Wohnorten ablehnen.
Bekannte von ihr seien bereits vor fünf Jahren aus Berlin nach Israel ausgewandert – wegen zunehmender Anfeindungen. Für eine andere Jüdin sei „Essen eine No-go-Area“. Als sie nun die Bilder der Hamas-Attacke gesehen hat, sei ihr erster Gedanke gewesen: „Jetzt geht es los.“ Sie meint damit antisemitische Übergriffe.
Spürbarer Antisemitismus im Alltag
Auch im Alltag in Witten spüre sie immer mehr Antisemitismus – in ihrer Erfahrung vor allem von Menschen mit arabisch-türkischem Migrationshintergrund. Um Antisemitismus zu bekämpfen, müsste man deshalb am besten das türkische und russische Fernsehen verbieten, findet sie – wegen der staatlichen Propaganda. „Denn es hat immer mit Hetze angefangen.“
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Sie erlebe die Republik derzeit geteilt. „Deutschland sollte erkennen, dass es im eigenen Interesse ist, anti-demokratische, antisemitische, rassistische und totalitäre Gedanken zu bekämpfen.“ Durch Aufklärung und Gesetze: „Wir müssen unsere Gesellschaft schützen.“
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