Witten. Die türkisch-syrischstämmige Gemeinde in Witten blickt voller Trauer und Sorge in die Heimat. Viele haben noch Angehörige in der Erdbebenregion.

Nichts deutet an diesem strahlend sonnigen Wintertag in Witten auf die Katastrophe im türkisch-syrischen Erdbebebengebiet hin. Und doch sind viele, die aus dieser Region stammen und nun in der Ruhrstadt leben, mit ihren Gedanken bei den Menschen in der Heimat. So viele Tote, so viel Zerstörung – das Jahrhundertbeben sorgt auch in Witten für Entsetzen.

„Jede Sekunde wird dort gerade gestorben“, sagt der junge Mann, selbst ein Iraker, der in der syrischen Bäckerei auf der unteren Bahnhofstraße bedient. „Eine große Katastrophe“, meint er. Hunderte von Familien befänden sich noch unter den Trümmern der Häuser. Er fordert Deutschland und andere Länder auf, unverzüglich Hilfe zu leisten. „Sie dürfen nicht nur reden, sondern müssen sofort Hilfe schicken.“

Gerade im kurdisch bewohnten Teil der Erdbebenregion in Syrien komme keine oder viel zu wenig Hilfe an, sagt Bäckerei-Gast Abdorodi (39), der sich gerade einen Kaffee holt. Er stammt aus der Autonomieregion um Amude. Erst vor wenigen Wochen sei das Haus seines Onkels beschossen und in Brand gesetzt worden. Nun habe das Erdbeben die Hälfte der Stadt zerstört, sagt der Kurde. „Ich habe gestern mit meiner Familie telefoniert. Sie sind über Nacht draußen geblieben. Hauptsache, sie leben.“

„Meine Familie ist seit zwei Nächten draußen“

Seine Eltern lebten zum Glück im Dorf, wo die Häuser kleiner seien und selbst von ihnen gebaut wurden, sagt Rüsten Celik (30), der als Fleischer im türkischen Supermarkt an der Hammerstraße arbeitet. Er stammt aus der Gegend um Sanliurfa in Südostanatolien, das ebenfalls direkt an der türkisch-syrischen Grenze liegt. „Da ist auch viel passiert“, sagt der 30-Jährige. Heute Morgen habe es weitere Nachbeben gegeben. „Meine Familie ist seit zwei Nächten draußen“, sagt Rüsten.

Abdorodi aus Witten hat Angehörige in der von Kurden bewohnten Erdbebenregion in Syrien.
Abdorodi aus Witten hat Angehörige in der von Kurden bewohnten Erdbebenregion in Syrien. © Augstein

Als eine Mitarbeiterin des „Sanli Markt“ an der Schleiermacherstraße in Annen früh morgens um halb sieben mit ihrem Handy am Ohr zur Frühschicht hereinkam, wusste Betreiber Mikail Yildirim sofort, dass etwas nicht stimmt. Sie versuchte jeden zu erreichen, den sie kennt. Denn ihre fünfköpfige Familie lebt in der Nähe von Gaziantep, wo die Erde besonders stark gebebt hatte. Persönlich sprechen möchte die Kassiererin nicht – zu aufwühlend ist die Angst. Noch immer hat sie nichts gehört, weiß nur von Bekannten, dass das Haus über den Köpfen der Familienangehörigen zusammenbrach.

„Es ist schrecklich, was die Betroffenen jetzt durchmachen müssen“, sagt Supermarkt-Betreiber Mikail Yildirim. Der 42-Jährige konnte aufatmen. Seinen Freunden und Verwandten in der im Zentrum der Türkei gelegenen Heimatstadt Kayseri geht es gut, das Beben war dort etwas schwächer. Anderen ist die Anspannung noch anzusehen.

Wittener schreibt mit Freund vor dem zweiten Beben

Während er Regale einräumt, erzählt Mitarbeiter Nuh von seinem engen Freund, mit dem er am Montagmorgen um fünf Uhr noch über Whatsapp geschrieben hatte. „Er meinte, ihm und seiner Familie gehe es gut – aber das war nur nach dem ersten Beben, es kam ja noch ein zweites, noch stärkeres“, sagt der Supermarktmitarbeiter und die Stimme bricht. Sein Freund habe ihm nach dem ersten Erdbeben geschrieben, dass er mit seiner Familie zurück ins Haus gegangen sei – weil es so kalt war. Seit dieser einen Nachricht hat Nuh nichts mehr gehört. Immer wieder wandert der Blick zum Handy, ob nicht doch ein Lebenszeichen kommt. „Vielleicht ist auch einfach der Akku leer, sie haben ja keinen Strom und nichts.“

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Kunde Rojhat erzählt, dass er Freunde, Bekannte und viel Familie in der Nähe von Kahramanmaras hat, ganz in der Nähe vom Epizentrum des Erdbebens. „Gerade in den Dörfern ringsherum sind die jetzt komplett auf sich gestellt, es gibt nicht genug Unterstützung“, sagt der 19-Jährige. Er fühle sich hilflos. „Vor allem, wenn ich darüber nachdenke, dass es dort so kalt ist und die alle nichts mehr haben, um sich zu schützen.“

Noch am Montag hat Rojhat gemeinsam mit seiner Familie Kleidungsstücke und Babynahrung zu einer Sammelstelle nach Dortmund gebracht. „Die Lkw’s sind heute Morgen wohl losgefahren. Ich hoffe, die Spenden helfen den Überlebenden.“ Wirklich zuversichtlich, dass er von seinen Angehörigen aus Kahramanmaras noch etwas hört, ist der junge Mann nicht. „Die Zeit rennt davon. Alle, die jetzt noch unter den Trümmern liegen, haben schon alleine wegen der Kälte kaum noch Chancen.“