Witten. Sie hilft so vielen Ukrainern, ob sie Flüchtlinge in Witten sind oder mitten im Kriegsgebiet leben. Ein Gespräch mit Olga Tape zum Jahresende.
Das Telefon reißt Olga Tape (53) um fünf Uhr morgens aus dem Schlaf. Es ist der 24. Februar. „Olga, wir werden bombardiert“, schreit ihre Freundin Alexandra weinend in den Hörer. „Es kommt Krieg“, ruft sie. Tapes Heimatstadt Cherson wird erstmals von den Russen angegriffen. Es sollte der Anfang eines schrecklichen Jahres werden. Wir sprachen mit der Vorsitzenden der Ukraine-Hilfe Witten e.V. über die vergangenen zehn Monate und darüber, was sie vom neuen Jahr erwartet.
Frau Tape, wenn Sie an das jetzt zu Ende gehende Jahr zurückdenken, was empfinden Sie?
Ich empfinde einerseits immer noch Angst und Sorge wegen meiner Landsleute. Andererseits habe ich sehr viel Liebe und Hilfe von den Menschen in Witten erfahren. Ich selbst bekomme von Gott viel Liebe und Kraft, die ich an die Menschen aus der Ukraine weitergebe. Als gläubiger Mensch gibt mir dies Mut und Hoffnung.
Sie haben mit Ihren vielen Helferinnen und Helfern fast Unmögliches in diesem Jahr geleistet. Transporte auf die Beine gestellt, Flüchtlingen Wohnungen besorgt und Möbel angeschafft, dann sogar noch eine Musikschule gegründet – wie haben Sie das alles geschafft?
Wenn mir früher jemand gesagt hätte, ich würde das alles schaffen, hätte ich das nicht geglaubt. Aber diese Liebe und Hilfsbereitschaft der Menschen hier motivieren mich jeden Tag, das zu tun, was getan werden muss. Wir helfen auch, dass die Menschen hier registriert werden, begleiten sie bei den Behördengängen. Im Sommer hatten wir das Kindercamp und eine Kinderbetreuung für schulpflichtige Kinder organisiert.
Sie kennen viele junge Frauen, die ohne ihre Männer nach Witten gekommen sind, oft mit noch kleineren Kindern. Wie geht es denen heute?
Fast alle dieser Frauen sagen zu mir „Mutter Olga“. Ich bin für sie wie eine Mutter und sie sind für mich wie meine Kinder. Die meisten haben schon Plätze für ihre Kinder in den Kitas gefunden, die schulpflichtigen Kinder gehen in die Schule.
In welcher Verfassung sind diese Frauen?
Jeder einzelne Mensch hat seine Geschichte und hinter jedem steht eine große Tragödie. Die Männer kämpfen oft an der Front, Häuser oder Wohnungen sind zerstört. Sie haben wenig Hoffnung auf eine Zukunft in der Ukraine. Ich versuche, sie immer wieder zu motivieren.
Wie sieht es mit Wohnraum für die Flüchtlinge in Witten aus?
Wir haben schon 135 Wohnungen gefunden. Viele stellt zum Beispiel Michael Hasenkamp zur Verfügung. Er ruft mich an, wenn er was frei hat. Auch das Sozialamt bietet uns Wohnungen an. Durch die Berichte in der WAZ haben sich auch viele andere Privatleute bei uns gemeldet und Wohnungen angeboten. Wir haben auch ein paar Wohnungen, wo ältere Leute untergebracht sind, die allein nicht zurechtkommen und von uns betreut werden. Die Jüngeren leben in eigenen Wohnungen, die über die ganze Stadt verteilt sind.
Hält die Hilfsbereitschaft der Wittener an oder spüren Sie nach zehn Monaten Krieg, dass diese nachlässt?
Nein, nein. Es wird sogar noch intensiver. Nach dem letzten Spendenaufruf für unseren Transport nach Cherson, der am Mittwoch gestartet ist, kamen wieder viele Menschen mit Paketen voller Lebensmittel, Gasflaschen, Medikamenten, Decken oder Babynahrung. Wir hatten einen ganzen Raum voll. Es wird weiterhin sehr viel gespendet, auch Geld. Der Lions-Club Rebecca Hanf und Witten-Mark und der Rotary Club Witten helfen uns ebenfalls sehr. Man sollte die Firma Ostermann nicht vergessen, die uns sehr bei der Möblierung der Wohnungen unterstützt.
Denken viele Flüchtlinge derzeit noch an eine Rückkehr?
Viele hoffen und erwarten das. Aber die Menschen aus Städten wie Mariupol, Bucha oder Cherson, meiner Heimatstadt, werden lange Zeit keine Möglichkeit haben zurückzugehen, weil ihre Städte völlig zerstört sind.
Die Russen bombardieren immer wieder auch die Stromversorgung. Was hören Sie aktuell von den Menschen, die dageblieben sind, zum Beispiel in Cherson?
Ich habe jeden Tag Kontakt. Auch unbekannte Menschen schreiben mir, etwa auf Facebook. Sie haben Angst, nach draußen zu gehen. Das tun sie nur, um Medikamente oder ein Stück Brot zu holen. Am 24. Dezember lag Cherson wieder unter sehr schwerem Raketenbeschuss. Eine Bombe ist in den zentralen Wochenmarkt gefallen. Dabei sind mehr als 40 Menschen ums Leben gekommen.
Haben Sie noch Bekannte oder Angehörige in der Stadt?
Bekannte, ja. Sie sprechen von einem Regen aus Phosphor, der auf sie niedergeht. Viele sind psychisch am Ende. Sie sagen: Wir leben von einem Tag auf den anderen.
Mit welchen Gefühlen, welchen Hoffnungen schauen Sie auf das neue Jahr?
Ich weiß, dass es eine neue, freie Ukraine geben wird. Dafür müssen wir einen hohen Preis bezahlen. Wir Ukrainer in Witten wollen uns gut integrieren und von Deutschland lernen. Wenn die Menschen irgendwann zurückgehen, werden sie eine neue Ukraine aufbauen.