Witten. Eine ukrainische Familie in Witten ist mit ihren Gedanken ganz beim ältesten Sohn. Er kämpft zu Hause an der Front. Sorgen überschatten Feiertage.
Iryna Mamontova und ihre Kinder haben den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer mit roten und goldenen Kugeln geschmückt. Dort sitzen sie zusammen, singen gemeinsam oder erzählen sich Geschichten. Dennoch will keine feierliche Stimmung aufkommen. Denn einer fehlt: Stas. Alle sind in Gedanken bei ihm, dem Sohn und Bruder, der im Osten der Ukraine für sein Heimatland kämpft.
Seit acht Monaten lebt die Familie aus Cherson in einem Wittener Dachgeschoss. Die 38-jährige Mutter ist sehr froh, dass sie für sich und vier ihrer Kinder (7, 11, 14 und 16) eine geräumige Wohnung von 100 Quadratmetern gefunden hat. Dass die Flucht aus der damals von Russen besetzten Stadt gelungen ist, grenzt für Iryna Mamontova noch immer an ein Wunder.
Auf der Flucht fielen Schüsse russischer Truppen
Für die ersten 70 Kilometer „brauchten wir zwei Tage“, erinnert sie sich an die Flucht. Sie hat die schrecklichen Bilder noch vor Augen. „Wir mussten 18 schwer bewaffnete Streckenposten passieren. Die Soldaten haben immer wieder auf Autos geschossen. Mehrfach habe ich gedacht, wir kommen hier nicht mit heiler Haut raus“, sagt die Frau. Doch der Familie sollte zum Glück nichts passieren. Es gelang ihr schließlich, über Odessa, Rumänien und weitere Länder nach Witten zu gelangen. Jedoch ohne Stas.
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Weihnachten am 7. Januar
Weihnachten wird von einem Großteil der Ukrainer entsprechend dem Ritus der orthodoxen Kirche am 7. Januar gefeiert. Heiligabend ist dann am 6. Januar, hierzulande das Fest der Heiligen Drei Könige.
Viele Flüchtlinge, so auch die Familie Mamontova, haben aber entschieden, sich den Gepflogenheiten des Gastgeberlandes anzupassen. Deshalb haben sie das Fest wie hierzulande üblich, beginnend mit dem 24. Dezember, gefeiert.
Olga Tape von der Ukraine-Hilfe in Witten bedankt sich bei allen Bürgerinnen und Bürgern, die in diesem Jahr geholfen haben – mit Spenden, mit Wohnraum, mit menschlicher Wärme. „Ich wünsche allen Wittenern ein glückliches Weihnachtsfest“, sagt sie.
„Mein Sohn war nach dem Militärdienst in unserem Land bei der Armee geblieben“, sagt seine Mutter. Er ließ sich für den Minenräumdienst ausbilden und begann damit wenige Wochen vor Kriegsbeginn. Am 24. Februar erhielt die Ukrainerin dann einen Anruf ihres Sohnes, er müsse Cherson verlassen. Als wenig später die russischen Truppen einmarschierten, wusste die Familie nicht, wo sich der 20-Jährige aufhielt. Das Hoffen und Bangen hatte erst ein Ende, als er sich aus Bachmut meldete. Die Stadt liegt im umkämpften Donbass, an der Grenze zu Russland. Dort ist er seither geblieben.
Familie hört manchmal eine ganze Woche nichts von dem Sohn
„Nun weiß ich zwar, wo er sich aufhält. Aber ich habe ständig Angst um ihn“, sagt die Mutter. Sie wirkt gefasst. Doch man merkt ihr die Anspannung an. Anastasia (16), die älteste Schwester von Stas, spricht ganz offen: „Ich mache mir große Sorgen um ihn und das erst recht, wenn ich längere Zeit nichts von ihm gehört habe.“ Manchmal hören sie eine ganze Woche nichts von ihm. Sie können auch nicht einfach anrufen. „Das ist zu gefährlich. Denn wir wissen nicht, was er gerade macht oder wo er ist.“
Solche Tage sind für sie als Angehörige eine Tortur. „Wir wissen nämlich, dass von 20 Kameraden, die in seiner Einheit waren, nur noch drei leben“, erzählen sie. Unzählige Male hat die Familie schon versucht, Stas zu überreden, die Ukraine zu verlassen und ihnen nach Deutschland zu folgen. „Erst lautete seine Antwort: Ich gehe, wenn Cherson befreit ist. Inzwischen haben die russischen Truppen die Stadt verlassen. Jetzt will er erst dann gehen, wenn die Ukraine befreit ist“, sagt Iryna Mamontova. „Wenn dieser Krieg doch bloß bald ein Ende hätte.“
Soldaten harren bei minus 15 Grad in Zelten aus
Derweil müsse ihr Sohn Temperaturen von minus 15 Grad ertragen. „Er haust mit seinen Kameraden seit Monaten in einem Zelt.“ Die meiste Zeit sei er an der Front unterwegs, um Minen wegzuräumen oder auch zu legen. Es herrsche nun mal Krieg. Um warmes Wasser zu haben oder Essen zuzubereiten, in aller Regel irgendwelche Konserven, machten die Soldaten Feuer mit Holz, das sie im Wald finden. Nach Telefonaten mit Stas weiß die Familie, welchen Entbehrungen der 20-Jährige ausgesetzt ist.
Wenn die Mutter oder auch Tochter Anastasia versuchen, sich einmal nach seiner Gemütslage zu erkundigen, kommen sie nicht weit. Dann folgt meistens der Standardspruch: „Mir geht es gut. Macht Euch keine Sorgen“, erzählt Iryna Mamontova. „Das zu glauben, fällt natürlich ungemein schwer.“ Seine in Kiew lebende Freundin höre dasselbe von ihm.
Beim Weihnachtsfest vor einem Jahr saßen noch alle gemütlich beieinander
Gerade in den letzten Tagen hat die Angst um ihn noch einmal stark zugenommen. Es gehen Bilder aus Bachmut um die Welt, die Dörfer zeigen, die die russische Seite offensichtlich in Schutt und Asche gelegt hat. Diese Bilder lassen das wahre Grauen nur erahnen, sagt die Mutter und denkt an all das Leid der Menschen. „Wer hätte vor einem Jahr einen solchen Krieg für möglich gehalten?“
So weit her scheint da das Weihnachtsfest im vergangenen Jahr zu sein, als noch Frieden herrschte. „Wir waren alle in unserer Wohnung zusammen, hatten gute Laune und viel Spaß wie eigentlich jedes Jahr“, erinnern sich die Flüchtlinge aus Cherson. Sie haben gegessen, gespielt, gesungen – was man eben so tut. Dieses Mal „wollen wir es auch versuchen“, betont Iryna Mamintova. Sie wolle auch Geschenke für die Kinder kaufen. Wie sich dann der Heiligabend und die weiteren Festtage entwickeln, bleibe abzuwarten. Mit Stas am Telefon zu sprechen, das ist der Wunsch aller in der Familie.
Schwester Anastasia wiederum blickt schon in Richtung Silvester. Da hat sie Geburtstag und schon einen festen Entschluss gefasst. Sie will nicht feiern, wenn der Bruder an der Front ist.