Witten. Wochenlang hat die gefährliche Flucht einer ukrainischen Familie durch halb Europa bis Witten gedauert. Das sind ihre erschütternden Erlebnisse.
Hunderte von ukrainischen Flüchtlingen sind schon in Witten angekommen. Erst vor wenigen Tagen hat es eine Familie aus dem von Russen besetzten Mariupol hierher geschafft – nach einer Odyssee durch halb Europa. Dass sie mit heiler Haut davongekommen ist, grenzt an ein Wunder.
Bomben legen Wohnung der Ukrainer in Schutt und Asche
Mit Tränen in den Augen erzählt die 15-jährige Marharyta Tushkaneva von dem Morgen des 24. Februar, als Russland die Ukraine überfiel. Um fünf Uhr morgens habe sie ihre Mutter mit den Worten geweckt „es geht los“. Noch am Tag selbst verließ die Familie ihre Wohnung im vierten Stock und suchte Schutz in den Kellerräumen. Das war ihr Glück. Keine 24 Stunden später lag fast alles in Schutt und Asche.
„Nur ein Stück Küche ist übrig geblieben“, sagt ihre Mutter Olga. Auf einem Foto sind noch Herd und Waschmaschine zu sehen. Die 46-Jährige sucht in ihrem Handy aber sofort nach einem anderen Bild, eines aus besseren Tagen. Die Familie sitzt Weihnachten in einem schmucken Wohnzimmer an einer gedeckten Tafel zusammen. „Alles weg“, sagt die Ukrainerin. Geblieben ist nur die Erinnerung.
Mariupol fast vollständig zerstört
Die russischen Bomben- und Raketenangriffe auf Mariupol, haben die einstigen Hafen- und Stahlindustriemetropole am Asowschen Meer weitestgehend zerstört.
Bei den Angriffen kamen Tausende von Menschen ums Leben. Allein bei der Bombardierung des Theaters sollen Hunderte Opfer gefordert haben.
Die Initiative von Olga Tape sammelt Spenden für ihre Landsleute, die nach Witten flüchten. So unterstützt sie auch die Familie Tushkaneva, die sich nun ein neues Leben aufbauen will.
Darüber hinaus möchte die Initiative eine Theatergruppe für Kinder und Jugendliche gründen, damit sie ihre Erlebnisse verarbeiten können. Dafür werden noch Räume gesucht. Kontakt: 0175/8798224 WhatsApp: 0157/50386561.
Tief in das Gedächtnis der Ärztin haben sich aber auch ganz andere Bilder eingebrannt. Als die Familie mit 200 Nachbarn über Wochen in den Kellergewölben ausharrte. Als sie sich Schnee von draußen holten, „damit wir Wasser hatten“. In einem benachbarten Café, das längst geschlossen hatte, fanden sie Kartoffelschalen, Möhren und alte Brötchen. Es gab nichts anderes zu essen.
Ehemann begräbt tote Nachbarn
Nachts sanken die Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt. Ohne Jacken, die sie im letzten Augenblick beim Verlassen der Wohnung mitnahmen, „hätten wir das kaum überstanden“, so die 46-Jährige. Für einige ältere Menschen, gesundheitlich ohnehin schon angeschlagen, waren die Strapazen zu viel, sagt Ehemann Dimitrio (52) und senkt den Blick. Dutzende Tote haben er und andere Männer begraben müssen. Die Wiesen vor dem Hochhaus wurden zum Friedhof. Unter den Verstorbenen waren auch Nachbarn, „mit denen wir vor wenigen Wochen noch gefeiert hatten“. Sie kamen bei den Raketenangriffen ums Leben.
Als eine Bombe wieder Dutzende von Menschen in ihrer Stadt töteten, die sich ebenfalls in einem Keller sicher gewähnt hatten, entschied die Familie Tushkaneva: „Nur noch weg!“ Der Bombenhagel, der nach wie vor auf Mariupol niederging, „war uns egal“, sagt der Vater. Mit dem Auto wollte die Familie zur Halbinsel Krim und dann am besten nach Deutschland. Auch wenn die Halbinsel von Russen besetzt ist, erschien der Weg sicherer als Tausende von Kilometern durch die Ukraine.
Doch schon nach 90 Kilometern war Schluss, der Tank leer. Sprit war nirgends aufzutreiben. Der Familie blieb wie anderen Flüchtlingen, die sich auch auf den Weg gemacht hatten, keine andere Wahl. Sie lebten im Auto. Bis heute können sie es nicht fassen, dass die Russen selbst diesen Parkplatz mit Raketen angriffen. Was sie dann mitansehen müssen, erschüttert die Familie zutiefst. Im Wagen nehmen ihnen sterben Onkel, Tante und deren drei Kinder. Auch sie wollten dem Krieg entfliehen.
In Gedanken bei den Arbeitskollegen des Asow-Stahlwerks
Dimitrios gehörte zu den Männern, die im Asow-Stahlwerk in Mariupol gearbeitet haben, das durch den Widerstand der Ukrainer gegen den Dauerbeschuss der Russen Weltruhm erlangen sollte. „Wir haben uns wie eine Familie gefühlt“, erzählt der gelernte Ingenieur. Ein Vierteljahrhundert war er dort in Lohn und Brot. „Nun sind 30 Menschen tot, mit denen ich viel zu tun hatte.“ Das habe er inzwischen über die sozialen Medien erfahren. Viele Beschäftigte ergriffen wie er die Flucht, andere kämpften bis zum bitteren Ende. Mit einem, der jetzt in Gefangenschaft ist, hatte er lange Zeit Kontakt.
Schließlich gelingt es der Familie, sich auf ihrer Flucht bis zur Krim durchzukämpfen. Georgien und die Türkei sind weitere Station auf dem Weg nach Witten. Der Kontakt in die Ruhrstadt kommt über die hier lebende Musiklehrerin Lubov Vogel zustande. Tochter Olga hatte bei ihr Gesangsstunden. Die Musikerin vermittelt ihnen eine Wohnung. Eine weitere Tochter, Olgas Schwester Diana (24), ist in der Ukraine geblieben. Sie lebt in Kiew. So froh die Tushkanevas sind, nun in Witten in Sicherheit zu sein: Das Leid ihrer Landsleute werden sie nie vergessen.