Witten. 40 Jahre lang hat Karl getrunken – und alles verloren. In Witten fand er Unterstützung. Hier erzählt der 61-Jährige seine berührende Geschichte.

Einen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt zu trinken oder an Silvester mit Sekt anzustoßen: Das kommt für einen 61-jährigen Wittener nicht in Frage. Denn Karl, der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte, ist trockener Alkoholiker. Seine Geschichte will er erzählen, „um anderen zu zeigen, wie schnell man abstürzen kann“ – dass es aber auch wieder aufwärtsgehen kann. Karl hält seit sieben Jahren durch – und wünscht sich nichts sehnlicher, als dass es so bleibt. Die Chancen stehen gut.

40 Jahre währte seine Trinker-Karriere. Sie begann im jugendlichen Alter irgendwo in einer anderen Stadt. Karl war 14, als der Alkohol in sein Leben trat. In der Clique, zu der auch viele Ältere gehörten, spielten Bier und Schnaps eine große Rolle. „Ich wollte dabei sein und Alkohol macht eben locker.“ So fing alles an.

Die alleinerziehende Mutter warf den Sohn raus

Die alleinerziehende Mutter hat den Sohn irgendwann rausgeschmissen. „Sie konnte nicht mehr“, sagt Karl rückblickend. Der junge Mann zog zu seiner Tante – und weiter mit den Kumpels durch die Stadt. Seine Lehre als Maschinenschlosser musste er abbrechen. Mit 21 heiratete Karl das erste Mal. Diese wie auch die zweite Ehe zwei Jahre später gingen in die Brüche.

Mit seiner zweiten Frau hat Karl zwei Kinder und der Familie zuliebe eine Entgiftung versucht: Zehn Tage wurde er in einer Suchtklinik medikamentös behandelt. Und kam doch auf Dauer vom Alkohol nicht los. Inzwischen hat er an die 16 solcher Aufenthalte hinter sich.

Nach dem Tod seiner dritten Frau ging es bergab

Lange habe er gedacht: „Ich kann aufhören, wann ich will.“ Ein Trugschluss. Mit über 30 heiratete Karl ein drittes Mal, bekam noch ein Kind. „Heute weiß ich, dass das nicht verantwortungsvoll war“, gesteht er. Als seine Frau starb, ging es „richtig bergab“. Karl saß allein mit seiner Tochter da und wusste, „das kann ich nicht schaffen“. Er gab die Kleine zu seiner Schwester. Dann brach sein Leben komplett zusammen: „Man fällt in ein tiefes Loch und dann ist der einzige Ausweg, sich die Welt schön zu saufen.“ Ein halber Kasten Bier und eine Pulle Schnaps – das war seine tägliche Ration.

Karl hat schlimme Momente durchlebt, hat kaum noch gegessen, nur noch Alkohol konsumiert. Er stand mit zitternden Händen an der Kasse eines Discounters und kippte das erste Billig-Bier noch auf dem Parkplatz – um sofort Nachschub zu holen. Er brach auf der Straße zusammen und wurde mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht. Er verlor erst den Job, den er wegen eines verständnisvollen Geschäftsführers lange halten konnte. Dann verlor er seine Wohnung.

In Witten fand Karl Unterstützung

Karl fand Unterstützung, bekam einen gesetzlichen Betreuer. Doch dann zog er wieder in seine alte Stadt, traf die alten Bekannten – und wurde rückfällig. Witten bedeutete schließlich die Wende in seinem Leben. Seit 2015 lebt er hier. Die Wohnungslosenhilfe von Bethel.regional an der Kreisstraße sei seine letzte Chance gewesen. „Dort habe ich mich wohlgefühlt.“ Dort hat er vor allem die Entscheidung getroffen: „Ich will nicht mehr trinken.“

Die Selbsthilfegruppe „Aktiv suchtfrei“

Manfred Freund hat die Selbsthilfegruppe „Aktiv suchtfrei“ vor neun Jahren in Witten gegründet. Das Motto: Miteinander reden, voneinander lernen, füreinander da sein. Aktuell gehören zwölf Männer und Frauen zwischen 24 und 80 Jahren dazu. Interessierte sind herzlich willkommen.

Die Gruppe trifft sich jeden ersten und dritten Dienstag im Monat von 18 bis 20 Uhr in der Selbsthilfekontaktstelle (Kiss) an der Dortmunder Straße 13. Ansprechpartner ist Gruppenleiter Manfred Freund: 0178 6346115.

In der Ruhrstadt bezieht Karl endlich wieder eine eigene Wohnung. Er arbeitet in der Werkstatt der Lebenshilfe an der Dortmunder Straße. Und er besucht regelmäßig die Selbsthilfegruppe „Aktiv suchtfrei“. Deren Leiter Manfred Freund lobt Karl: „Er kommt pünktlich zu jedem Gruppenabend, ist einer der wenigen, auf die ich mich hundertprozentig verlassen kann.“ Karl tut es gut, dort offen reden zu können: „Wir haben ja alle das gleiche Problem.“ Und sie sitzen ja nicht nur am Tisch, sondern gehen raus: Sie wandern, boulen am Hohenstein, essen zusammen ein Eis, machen einen Fotokurs.

Wittener über seine Sucht: Eine total vertane Zeit

Heute schämt sich Karl für seine Vergangenheit. „Es war eine total vertane Zeit, in der so viel verloren gegangen ist, was ich nicht mehr nachholen kann.“ Am meisten bedaure er, dass er seine Kinder nicht aufwachsen sah. Lange habe es gedauert, bis sie wieder Vertrauen zum Vater hatten. Karl will sie auf gar keinen Fall noch einmal enttäuschen. „Sie müssen keine Angst mehr haben, dass ich irgendwo in der Ecke liege“, sagt er voller Überzeugung. Auch die beiden Enkelkinder sind ihm Motivation.

Karl meidet Partys und den Kontakt zum alten Leben. Er hat Schicksalsschläge – etwa den Tod seines Bruders – ohne Alkohol gemeistert. Sein gesetzlicher Betreuer hat sich letztes Jahr ausgeklinkt. „Ich fühle mich wohl. Es läuft“, sagt Karl. Mit 61 Jahren sei er nun „dem Leben auf der Spur“.