Witten. Immer wieder rückt der Krieg in der Ukraine ganz nah an Witten heran, etwa wenn Bomben auf Cherson fallen. Sängerin Lubov Vogel war geschockt.

In Witten leben nach Schätzung der Ukraine-Hilfe von Olga Tape mindestens 250 Flüchtlinge aus Cherson, jener Gebietshauptstadt im Süden des Landes, die im März als Erstes von den Russen besetzt wurde und nun, neun Monate später, wieder in der Hand der Ukrainer ist. Doch die Freude über den Abzug der russischen Besatzer hält sich in Grenzen. Olga Tape, die selbst aus Cherson stammt und vor Jahren nach Witten kam, sagt warum.

Tape hat gerade ihren 53. Geburtstag gefeiert. Ihre Freundin und Mitstreiterin Lubov Vogel fehlte, eine in Witten längst bekannte Sängerin und Lehrerin, die herzzerreißende Lieder singt, schon in der Ukraine unterrichtet hat und nun am Aufbau der neuen ukrainischen Musikschule in der Galenstraße beteiligt ist. Sie musste sich erst einmal von dem Schock erholen, dass ihre noch in Cherson lebende Mutter am Montag offenbar nur knapp dem Tod entkommen ist.

Wittener Ukraine-Helferin: Frau wurde aus der Wohnung geschleudert

Sie wohnte nach Angaben von Olga Tape in einem der Hochhäuser, die von den Russen bombardiert wurden. „Das Haus und ihre Wohnung sind zerstört“, berichtet Tape. Die Mutter sei regelrecht aus der Wohnung geschleudert worden – und habe wie durch ein Wunder überlebt. „Sie blieb unverletzt, ihre Katze auch.“

Olga Tape (re.) und Lubov Vogel brachten im Juli selbst Hilfsgüter nach Lemberg.
Olga Tape (re.) und Lubov Vogel brachten im Juli selbst Hilfsgüter nach Lemberg. © Ukraine-Hilfe Witten

„Frau Vogel ist ganz traurig. Ich versuche, ihre Mutter da rauszuholen“, sagt Olga Tape. Sie will sich in der nächsten Woche auf den Weg nach Lemberg machen, im Westen der Ukraine, nahe der polnischen Grenze, um Lubovs Mutter und andere ältere Menschen abzuholen und nach Deutschland zu bringen. Denn die Zustände in Cherson seien katastrophal, nicht nur wegen des Beschusses durch die Russen, die sich auf der anderen Seite des Dnepr versteckt hätten, einem Fluss so groß wie der Rhein in Düsseldorf.

„Die Russen haben alles geklaut“

„Mir war klar, dass die Russen die Stadt nicht so einfach hergeben würden, Fallen stellen und Bomben werfen“, sagt Tape. „Sie haben alles geklaut, den letzten Rettungswagen, den letzten Feuerwehrwagen, die Sachen in den Krankenhäusern, Computer, einfach alles leergeräumt.“ Ihre Landsleute seien außerdem unter falschen Versprechungen nach Russland gebracht worden, darunter einige Bekannte. Wegen der derzeit schlimmen Lage in Cherson wollten sie nicht zurück.

„Die Menschen trinken Wasser aus dem Fluss, sie frieren und haben nichts zu essen“, schildert Tape die dramatische Lage. Viele Leute, die bis zuletzt gehofft hätten, würden jetzt fliehen, weil Cherson bombardiert werde und sie keinen Strom hätten. „Das macht mich traurig. Meine Stadt wird zerstört.“

Noch mehr Flüchtlinge erwartet

Die Russen hätten auch jene Brücke zerstört, die aus der Stadt herausführt, in andere Orte, aber auch ans Schwarze Meer oder auf die Krim. Auf dem anderen Ufer hätten sie viele Kräfte gesammelt, die Cherson beschießen würden. So schlimm die Okkupation gewesen sei, „die Menschen hatten jedenfalls neun Monate Ruhe. Nun wissen sie nicht, ob sie überleben“.

Sie erwarte nun noch mehr Flüchtlinge aus Cherson, sagt Olga Tape, die gerade erst wieder zwei Familien in Witten angemeldet hat. Sie freut sich, dass sich zumindest die neue Musikschule gut entwickelt, eine der wenigen guten Nachrichten in diesen Tagen. „Die Kinder sind glücklich. Sie haben jeden Tag Unterricht, singen und tanzen.“ Ab Mittwoch will auch Lubov Vogel wieder unterrichten. Sie hofft, ihre Mutter bald in die Arme schließen zu können.