Witten. Russische Soldaten kamen, um ihn zu holen. Doch Sergii Kuznetsov war bereits mit seiner Familie geflohen. Jetzt lebt der Uni-Dozent in Witten.

Die russischen Truppen haben angekündigt, sich aus der hart umkämpften ukrainischen Stadt Cherson zurückzuziehen. Doch die Gefahr für die Menschen dort ist noch lange nicht gebannt. Davon ist Dr. Sergii Kuznetsov überzeugt. Deshalb ist der Vize-Rektor der Universität Cherson jetzt nach Deutschland geflohen. Seit einem Monat wohnt der 51-Jährige mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter auf dem Sonnenschein in Witten. Trotz der vermeintlich guten Nachrichten aus der Heimat hat er keine Hoffnung, rasch wieder dorthin zurückkehren zu können.

Ein Bild aus besseren Tagen: Sergii Kuznetsov (vorne rechts) in der Universität Cherson im Kreise seiner Studentinnen und Studenten.
Ein Bild aus besseren Tagen: Sergii Kuznetsov (vorne rechts) in der Universität Cherson im Kreise seiner Studentinnen und Studenten. © Kuznetsov

Schon bevor die ersten Bomben fielen, war dem Dozenten für Sprachwissenschaft, Philosophie und Kunst klar, dass er so schnell wie möglich aus der Stadt wegmuss. Als leitender Mitarbeiter der Uni sei er im Visier der Angreifer. „Kollegen von mir wurden bedroht, gequält oder getötet, wenn sie nicht mit den Russen zusammenarbeiten wollten“, erzählt Kuznetsov in seiner Landessprache. Olga Tape von der Ukraine-Hilfe Witten übersetzt. Auch der Leiter der Philharmonie sei getötet worden. „Weil er ein Konzert der Russen nicht spielen wollte.“

Flucht führte über zwei Stationen nach Witten

Für die Feinde zu arbeiten, das kam auch für Kuznetsov keine Minute in Frage, wie der Wissenschaftler berichtet. Er packte daher das Auto und floh mit Frau und Kind in den ersten Kriegstagen zunächst nach Lwiw (Lemberg) und dann weiter nach Ivano-Frankiwsk im Westen des Landes. Denn dorthin hatte auch die Universität inzwischen ihren Sitz verlegt.

Seine Entscheidung, Cherson zu verlassen, ist goldrichtig gewesen, wie sich zeigen sollte. „Ein paar Wochen später kamen die Russen, um mich zu holen“, sagt der 51-Jährige und zeigt das auf einem Video, das die Überwachungskamera an seinem Haus aufgenommen hat.

Spenden für Weihnachtstransport

Die Ukraine-Hilfe sammelt jetzt für einen Weihnachts-Transport, der in das dann hoffentlich befreite Cherson gehen soll. Gebraucht werden dafür Lebensmittel, Medikamente, Babynahrung, Verbandsmaterial, Tierfutter sowie Decken. Auch Weihnachtsgeschenke für Kinder werden gesammelt. Kleidung wird hingegen nicht angenommen!

Bis 2. Dezember können die Spenden in der Galenstraße 53a täglich von 9 bis 18 Uhr abgegeben werden. Mehr Infos bei Olga Tape unter 0160 6050467, Mail:. Spendenkonto: IBAN DE33 3506 0190 2000 0230 11, Stiftung Creative Kirche, Verwendungszweck Transport Ukraine.

Übrigens: Das Weihnachtsprogramm, das die Musikschule erarbeitet, kann für Veranstaltungen gebucht werden. Auch auf dem Weihnachtsmarkt wird die Gruppe am 4. und 11. Dezember auftreten.

Doch auch in Ivano-Frankiwsk war die Familie auf Dauer nicht sicher, die Bomben kamen näher. „Jede Nacht der Alarm, es war nicht auszuhalten“, erzählt Anastasia Kuznetsova, die Frau des Dozenten. „Selbst wenn es ruhig war, gellten die Sirenen in unseren Köpfen weiter.“ So ein Leben in Angst habe sie für ihre Tochter Veronika (8) nicht gewollt. „Wir möchten, dass sie in Frieden leben kann“, sagt die 36-Jährige. Wieder machte sich die Familie auf den Weg – diesmal nach Witten.

Familie wurde herzlich willkommen geheißen

Denn über eine gemeinsame Bekannte hatten die Kuznetsovs Kontakt zu Olga Tape bekommen – genau im richtigen Moment. Denn sie hatte gerade die Zusage für eine leergewordene Wohnung auf dem Sonnenschein erhalten. „Die Besitzerin wollte die Räume gerne an Flüchtlinge vermieten“, sagt die engagierte Ukrainerin, die seit Jahren in Heven lebt. Ein paar Tage später kam die kleine Familie auch schon an – und wurde herzlich willkommen geheißen.

Sergii Kuznetsov (hinten MItte) hat schon viele große Veranstaltungen – Festivals und Wettbewerbe – organisiert, auch für die Universität, wie hier 2020 am Tag der Unabhängigkeit der Ukraine.
Sergii Kuznetsov (hinten MItte) hat schon viele große Veranstaltungen – Festivals und Wettbewerbe – organisiert, auch für die Universität, wie hier 2020 am Tag der Unabhängigkeit der Ukraine. © Kuznetsov

Sergii Kuznetsov kann sein Glück noch gar nicht recht fassen. „Die Leute hier sind so nett und so freundlich zu uns“, sagt er er. Alle seien hilfsbereit, womit er in dieser Form nicht gerechnet habe. „Ich glaube, die Seele von Deutschland wohnt hier in Witten.“ Auch das Stadtbild selbst hat ihn überrascht. „Wir sind schon viel gereist, haben viel gesehen. Aber dass es hier so schön grün ist, hatte ich nicht erwartet.“

Dozent unterrichtet unentgeltlich weiter

Auch wenn die Arbeit der Uni inzwischen offiziell zum Erliegen gekommen ist, will der Dozent seine Zeit nutzen. Er unterrichtet seine Studenten weiter online – ohne Bezahlung. „Ich will nicht, dass bei ihnen so große Lücken entstehen.“ Aber auch in Witten will er sich einbringen, ist bereits jetzt ein sehr aktives Mitglied der Ukraine-Hilfe. „Er ist sehr gut vernetzt. Das ist uns eine große Hilfe“, sagt Olga Tape erfreut.

Außerdem hat Kuznetsov schon viele große Veranstaltungen organisiert. Das wird er künftig auch für die ukrainische Musikschule tun, die in der letzten Woche in Witten eröffnet worden ist. Er hilft mit beim großen Weihnachtsprogramm, das gerade einstudiert und auf dem Weihnachtsmarkt zu sehen sein wird.

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Aber die Familie will nicht in ihrer ukrainischen Blase bleiben. „Wir wollen Deutsch lernen, uns integrieren und vor allem die europäischen Werte lernen – das ist ganz wichtig.“ Aber am wichtigsten ist ihnen die Sicherheit. „Wir haben alles verloren. Und möchten nur ein geregeltes Leben zurück.“

Doch wenn der Krieg ganz vorbei ist, nicht nur in Cherson, dann wollen die Kuznetsovs zurückkehren. Zurück in ihr Land, zurück zu ihren Eltern, um die sie sich täglich sorgen. Sergii Kuznetsov versichert: „Und das Beste, das wir in Deutschland gelernt haben, das nehmen wir dann mit.“