Witten. Ella Holz aus Witten wurde als Kind aus ihrer Heimat im heutigen Polen vertrieben. Die Bilder aus der Ukraine kommen ihr nur allzu bekannt vor.
Erinnerungsstücke aus ihrer alten Heimat sind Ella Holz nicht geblieben. Nur die Erinnerungen selbst. Als Sechsjährige wurde die Rentnerin nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit ihrer Familie aus Konitz im heutigen Polen vertrieben. Was sie dabei hatte? „Nichts“, sagt die 83-Jährige. „Nur meinen kleinen Bruder.“ Die Bilder aus der Ukraine erfüllen sie, die Vertriebene, mit blankem Entsetzen.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich so etwas noch erleben muss. Ich habe gedacht, die Leute sind vernünftig geworden“, sagt Holz. Die Menschen aus der Ukraine täten ihr „unendlich leid“. Ihr Mann Hans-Otto hat den Krieg damals großteils in Witten erlebt. „Wenn das jetzt im Fernsehen läuft, schalte ich weg“, erzählt der 84-Jährige. Weil er die Bilder nicht erträgt. Allein der Gedanke daran treibt ihm die Tränen in die Augen. „Das sieht aus wie bei uns hier damals, die gleiche Scheiße“, sagt er ganz unverblümt. Die zerbombten Häuser, tote Menschen auf der Straße.
Bei Fliegeralarm an Leichen vorbei nach Hause geeilt
An Nächte voller Angst in Luftschutzbunkern erinnert sich der ehemalige Bergmann. Daran, wie er bei Fliegeralarm nach Hause geeilt ist, auf dem Weg an grausam verstümmelten Leichen vorbei kam. Ein Anblick, der bis zum heutigen Tag, Jahrzehnte später, noch sehr präsent ist. Oder an jene Nacht, die er im Schutzkeller der Großmutter verbrachte – und am nächsten Tag durch eine kleine Spalte hinausgehoben wurde um Hilfe zu holen. Weil das Haus über ihnen zusammengestürzt war, die Erwachsenen keinen Weg hinaus fanden. Später floh die Mutter mit den Kindern zur entfernten Verwandtschaft ins ländliche Bayern, weil dort weniger gekämpft wurde. Dort harrte die Familie bis Kriegsende aus.
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Lebendig sind auch die Erinnerungen seiner Frau. „Wir hatten in Konitz keinen Bunker“, erzählt Ella Holz. Dafür einen Kohlenkeller. Während die Bomben fielen, suchte sie dort mit ihrer Mutter und den beiden Brüdern Schutz. „Ich war der Feuermelder, ich habe die Sirenen immer als erste gehört“, erinnert sich Holz. Vom Kellerfenster aus konnte die Familie die Stiefel der draußen herumeilenden Soldaten sehen. „Aber richtig schlimm wurde es, wenn sie ins Haus kamen.“ Denn die polnischen Soldaten hätten die Frauen in den Kellern vergewaltigt.
Frau bringt im Deportationszug ein Kind auf die Welt
Auch eine andere Szene wird Ella Holz nie vergessen: Als sie mit ihrer Familie in einem vollgestopften Viehwaggon Richtung Westen abtransportiert wurde, habe eine Frau ständig geschrien. Erst später erfuhr das kleine Mädchen von seiner Mutter, dass jene Frau bei ihrer Deportation ein Kind auf die Welt gebracht hatte. „Diese Schreie höre ich heute noch“, sagt Ella Holz.
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Ihre Familie kam zunächst nach Schleswig-Holstein, wo die Vertriebenen auf Bauernhöfe verteilt wurden. Einen herzlichen Empfang bot man ihnen nicht. Zunächst musste Ella Holz, ihre Mutter und die Brüder im Kuhstall schlafen, dann bekamen sie ein Zimmer. „Da glitzerten die Wände vor Eis“, erinnert sich die 83-Jährige. Dick eingepackt habe die Familie gemeinsam in einem Bett geschlafen. Dem kleinen Bruder, damals gerade ein Jahr, nahmen die Knechte des Hofes die Pudelmütze ab und ließen eine Kuh ihr Geschäft hinein verrichten. Um Essen zu bekommen, mussten die Kinder betteln gehen.
„Flüchtlingskind“ wurde in der Schule ausgegrenzt
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Die kleine Ella ging bald auch wieder in die Schule, musste aber „ganz von vorn“ anfangen, weil sie zwar Deutsch sprechen konnte, aber auf einer polnischen Schule lesen und schreiben gelernt hatte. „Schwierig, sehr schwierig“ war die Einschulung in Deutschland. Vor allem wegen der Ablehnung durch ihre Mitschüler. „Es hieß immer: Ella, mit dir dürfen wir nicht spielen, mit Flüchtlingskindern dürfen wir nicht spielen. Ich stand nur in der Ecke und habe zugesehen, wie die anderen gespielt haben.“
12 bis 14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene
Der Heimatort von Ella Holz liegt im ehemaligen Kreis Konitz, der zwischen 1772 und 1920 bestand und zu Westpreußen gehörte. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel die Gegend an Polen, war von 1939 bis 1945 im besetzten Polen dann Teil des neu eingerichteten Reichsgaus Danzig-Westpreußen. Die Stadt Konitz trägt heute wieder ihren polnischen Namen: Chojnice.
Insgesamt wurden in der Zeit von 1945 bis 1950 zwischen 12 bis 14 Millionen Deutschstämmige aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und anderen Siedlungsgebieten vertrieben oder flüchteten.
Die Bilder aus der Ukraine machen der Seniorin Angst. Davor, dass der Krieg bis nach Deutschland kommen könnte – und ihre schlimmen Erinnerungen sich wiederholen könnten. Doch alles in allem habe sie eine schöne Kindheit gehabt, sagt die 83-Jährige: „Ich hatte ganz liebe Eltern und tolle Brüder.“ Dass sie mit ihrer Familie zusammenbleiben konnte, sei als Kind ohnehin das Wichtigste für sie gewesen. Und Glück im Unglück hatte sie auch: Ella Holz’ Vater ist unversehrt aus dem Krieg zurückgekehrt – und siedelte Anfang der 50er-Jahre mit seiner Familie nach Witten um.