Witten. Wilhelm Wiemann erlebte vor 75 Jahren in einem Luftschutzkeller den Einmarsch der Amerikaner. Wie in Witten der Zweite Weltkrieg zu Ende ging.

Wilhelm Wiemann war sechs Jahre alt, als er in Annen zum ersten Mal einen farbigen Menschen sah. Einen verletzten amerikanischen Soldaten.  „Als Kind habe ich mich gewundert, dass so ein dunkelhäutiger Mann auch rotes Blut hat", erinnert sich der heute 81-Jährige. Eine Begegnung im April 1945. Eine Zeit, die Wiemann und alle Wittener nicht vergessen können, die vor 75 Jahren das Einrücken von US-Militär in die Stadt erlebten - und damit das nahe Kriegsende in Deutschland am 8. Mai 1945. 

Als am 11. April 1945 amerikanische Soldaten vor den Überresten des Marien-Hospitals standen, herrschten in der Stadt trostlose Zustände. Die Innenstadt war nach dem nächtlichen Großangriff durch britische Bomber am 19. März 1945 zu 80 Prozent zerstört. Wilhelm Wiemann lebte mit seiner Mutter und seinem dreijährigen Bruder Ulrich am Annener Berg im Haus Stockumer Straße 94. Das Gebäude war im Krieg von einer Brandbombe getroffen worden. „Es war ein Loch im Dach. Unser Haus war aber ansonsten unbeschädigt", berichtet Wiemann, der heute in Dortmund an der Stadtgrenze zu Schwerte lebt.

„Das ging zum Glück alles ohne Schießereien vonstatten"

Das Foto zeigt die Kriegszerstörungen am Wittener Kornmarkt um 1945. Nach einem Großangriff britischer Bomber in der Nacht des 19. März 1945 war Wittens Innenstadt zu 80 Prozent zerstört. 
Das Foto zeigt die Kriegszerstörungen am Wittener Kornmarkt um 1945. Nach einem Großangriff britischer Bomber in der Nacht des 19. März 1945 war Wittens Innenstadt zu 80 Prozent zerstört.  © Stadtarchiv Witten | Wüstenfeld, Repro: Jörg Fruck

Sein Vater war beim Russlandfeldzug kurz vor Stalingrad schwer verletzt worden und hatte Glück, wie der Sohn sagt. „Mit einem Zug ist er in ein oberschlesisches Lazarett gekommen, danach wurde er auf der dänischen Insel Fünen eingesetzt." Im April 1945 - nach Ostern - sollte der Vater beim Dortmunder „Volkssturm" zusammen „mit Invaliden und 14-jährigen Jungs" einen Frontabschnitt gegen die heranrückenden Amerikaner verteidigen. Sein Vater habe die Sinnlosigkeit eines solchen Einsatzes erkannt, seine Leute nach Hause geschickt, so der Sohn. „Er stand einen Tag vor dem Eintreffen der Amerikaner in Witten vor unserer Tür."

Der Vater versteckte sich vor den US-Soldaten. Im Wohnhaus der Familie an der Stockumer Straße erwarteten die Bewohner, Frauen und Kinder, die Amerikaner im Luftschutzkeller des Gebäudes. „Schließlich kam ein amerikanischer Soldat mit einer Maschinenpistole in unseren Keller. Er sah die Frauen und uns Kinder, sagte ,ok' und ging wieder." Wiemann erinnert sich an die Angst, die im Keller herrschte.  „Man hatte ja laufend Angst. Wir waren froh, dass nicht die Russen gekommen sind." Er habe dann gehört, wie die Amerikaner mit Autos und Kettenfahrzeugen am Haus vorbeizogen. „Das ging zum Glück alles ohne Schießereien vonstatten."

Am 15. April 1945 rollten amerikanische Panzer nach Bommern

Über den 12. April 1945, einen Tag nach dem Einzug der Amerikaner in die Stadt, schrieb die Wittenerin Kläre Post: „In der Stadt selbst herrscht ein wüstes Durcheinander." Post berichtet in ihrem Tagebuch, dessen Kopie man im Wittener Stadtarchiv findet, von Plünderungen durch Deutsche und Ausländer. Letztere waren ausländische Arbeiter und Kriegsgefangene, die  nicht mehr bewacht wurden, wie der Wittener Historiker Prof. Heinrich Schoppmeyer in seinem Buch „Witten. Geschichte von Dorf, Stadt und Vororten" schildert. 

Die Ruhr hätten die Amerikaner nicht überschreiten können. Schoppmeyer: „Die Herbeder Brücke war gesprengt worden. Die Bommeraner Brücke lag unter Beschuss der deutschen Truppen." Über die Ruhr hinweg hätten sich Deutsche und Amerikaner Artillerieduelle geliefert. Am 15. April seien schließlich amerikanische Panzern nach Bommern gerollt, die den Ruhrübergang in Wetter genutzt hatten. Herbede wurde am 16. April besetzt. Für die Wittener endeten damit die Kriegshandlungen „und es begannen die Nachkriegssorgen", so Heinrich Schoppmeyer. 

Wittens Oberbürgermeister wurde nach zwei Tagen festgenommen

Der als Stadtkommandant eingesetzte amerikanische Major Charles F. Russe ernannte Wittens bisherigen Kämmerer Wilhelm Zimmermann, der vor 1933 der Zentrums-Partei angehörte, am 12. April zum vorläufigen Bürgermeister. Laut Historiker Schoppmeyer war der letzte nationalsozialistische Wittener Oberbürgermeister Dr. Karl-August Wietfeldt beim Einrücken der Amerikaner in die Stadt am 11. April 1945 verschwunden. Er habe erst zwei Tage später festgenommen werden können. Auf Wilhelm Zimmermann  folgte Johannes Grimm und am 25. Juni 1945 dann Alfred Junge (SPD) als Oberbürgermeister. 

Nach der Aufteilung Deutschlands durch die Alliierten in vier Besatzungszonen fiel die damalige Provinz Westfalen - damit auch Witten - in die britische Zone. Die örtliche Militärbehörde wurde laut Wittener Stadtarchiv Anfang Juli 1945 von der englischen Militärregierung übernommen.

Vater kam am Tag der Währungsreform aus der Kriegsgefangenschaft zurück 

Der Vater des Annener Jungen Wilhelm Wiemann kam in Kriegsgefangenschaft. Zunächst war er in einem Lager in Rheinberg, danach als Kriegsgefangener in Nordfrankreich. Drei Jahren sollten vergehen. Der 81-jährige Wilhelm Wiemann: „Am Tag der Währungsreform, am 20. Juni 1948, sah ich ihn in Witten wieder. Er hieß wie ich Wilhelm. Ich habe ihn sofort erkannt. Mein Bruder nicht, er sagte Onkel Hugo zu ihm."  

>>> Die Besatzungschronik

Über das Wittener Stadtarchiv können Interessierte das Buch „Die Besatzungschronik und ausgewählte Dokumente zur Nachkriegszeit 1945-1949" für fünf Euro zuzüglich zwei Euro Versandkosten erwerben.

Bestellt werden kann die Chronik per E-Mail: stadtarchiv@stadt-witten.de. Das  Buch (187 Seiten) wurde 1987 vom Arbeitskreis zur Wittener Stadtgeschichte an der VHS Witten-Wetter-Herdecke herausgegeben.