Essen. . Vertriebene, die in Rüttenscheid, Frohnhausen, Borbeck, Steele leben, halten die Erinnerungen an die alte Heimat aufrecht.
Flucht, Vertreibung, Traumatisierung, der permanente Verlust der Heimat – diese Themen sind höchst aktuell. Nicht zum ersten Mal. Es ist das Schicksal einer Gruppe von mittlerweile hochbetagten Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die nach dem Zweiten Weltkrieg gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben wurden und auch in Essen eine neue Bleibe suchten. Es gibt sie noch, die Vertriebenen, die in Rüttenscheid, Frohnhausen, Borbeck, Steele leben und die Erinnerungen an die Heimat im fernen Osten aufrecht erhalten.
Seit 60 Jahren ist es Tradition, dass sich diese Menschen einmal im Jahr zu einem großen „Tag der Heimat“ treffen – ein besonderer, festlicher Anlass.
„Meine erste Unterkunft in Essen war eine Gaststätte in Heisingen“
Oberbürgermeister Thomas Kufen sprach hierbei wohl vielen der Versammelten aus der Seele, als er den Dichter Christian Morgenstern zitierte: „Heimat ist da, wo man verstanden wird.“
Freilich war es im zerbombten Ruhrgebiet der Nachkriegszeit für die Flüchtlinge nicht leicht, auf genau dieses Verständnis zu treffen. Bernhard Kehren, Vorsitzender der Essener Gruppe der Landsmannschaft Ost- und Westpreußen, erinnert sich noch lebhaft: „Meine erste Unterkunft in Essen war eine Gaststätte in Heisingen. Es gab nur das Nötigste – für jeden einen Stuhl und einen Tisch vielleicht.“
Mit der Zeit wuchs die gegenseitige Akzeptanz, doch über den Verlust der Heimat konnte das nicht hinwegtäuschen. „Es ist vielleicht das Geräusch eines sprudelnden Baches oder der Wind in den Bäumen, Eindrücke aus der Kindheit“, fasst Alfred Kottisch, Sohn eines Vertriebenen, zusammen. Für ihn selbst ist NRW das Zuhause, und doch pflegt er die Tradition der Heimat seines Vaters, der zeitlebens quasi entwurzelt gewesen sei. Das Ostpreußenlied muss Kottisch nicht vom Blatt ablesen. Doch er weiß, dass mit den Menschen, die aus eigener Erfahrung von den Ostgebieten und der Flucht berichten können, die Traditionen langsam sterben.
Marc Real ist 19 Jahre alt und Student. Nicht einmal das geteilte Deutschland hat der Kettwiger miterlebt, geschweige denn Flucht und Vertreibung nach dem Krieg. Und auch, wenn er all das nur aus den Erzählungen der Großeltern kennt, ist er überzeugt: „Wenn das Gefühl von Heimat durch die Geschichten greifbar wird, dann ist das eben nicht einfach vorbei, sondern lebhaft.“
Mit seiner Begeisterung für die Herkunft seiner Vorväter hat er auch Freundin Mandy Kunfeld (23) angesteckt: „Ich bin überzeugt, dass man aus der Vergangenheit lernen kann. Gerade jetzt in der Flüchtlingskrise merkt man, wie präsent das Thema heute noch ist. Und vielleicht lässt sich daraus ja ableiten, wie wir mit der Situation besser umgehen können.“ Marc Real ergänzt: „Man muss wissen, wo man herkommt, um entscheiden zu können, wohin man will.“