Witten. Wenn es regnet, schlafen Anwohner auf der „Lake-Insel“ in Witten schlecht. Tief sitzt die Furcht vor einer neuen Flut. So gehen sie damit um.
Die Schäden, die das Hochwasser vor einem halben Jahr in den Straßen „Alter Fährweg“ und „In der Lake“ angerichtet hat, sind weitgehend beseitigt. Doch die Furcht der Anwohner vor der nächsten Überflutung sitzt tief. „Es gibt Nachbarn, die können nicht schlafen, wenn es regnet“, sagt Dirk Pütz, der direkt gegenüber der Brennerei Sonnenschein wohnt. Ihn treibt außerdem die Sorge vor dem Neubau der Ruhrbrücken „ausgerechnet in Wittens Hochwasser-Risikogebiet“ um.
Die Erinnerung an die Katastrophe Mitte Juli ploppt auch bei dem 53-Jährigen immer mal wieder hoch. „Nicht täglich, denn sonst könnte man hier nicht mehr leben.“ Zum Glück war er „einigermaßen gut versichert“. Und verglichen mit dem Ahrtal sei man glimpflich davongekommen.
Wittener lobt Hilfsbereitschaft
Aber der Morgen, als er und seine Familie wach wurden und ringsum alles unter Wasser stand, der ist bei Pütz noch sehr präsent. „Wir sind am Tag zuvor mit dem Wohnmobil aus Osnabrück gekommen, sind schlafen gegangen und wollten eigentlich am nächsten Tag weiter in die Alpen.“ Daraus wurde nichts. Das große Fahrzeug sowie 13 weitere Autos sind abgesoffen. Strom und Wasser waren längst abgestellt.
Irgendwann an jenem 15. Juli kamen Feuerwehr und DLRG-Kräfte mit Schlauchbooten, um 50 Anwohner in einem mehrstündigen Einsatz vor der tosenden Ruhr zu retten. Später hätten die Mitglieder des Kanu-Clubs überall mit angepackt. „Das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Hilfsbereitschaft waren das einzig Positive in dem Moment“, sagt Pütz. Manche Nachbarn habe er erstmals bei der Ausschiffung mit dem Koffer in der Hand getroffen. Die meisten seien bei Freunden und Verwandten untergekommen. Ein Lehrer habe in seiner Schule übernachtet.
Anwohner zum Brückenneubau: Wir wollen kein neues Hochwasser-Risiko
Nun läuft Dirk Pütz fast jeden Tag mit dem Hund über das Gelände, das unter Wasser stand. Noch heute sind Wege gesperrt, sieht man abgebrochene Bäume. Und darüber thront die alte Ruhrbrücke, deren marode Substanz von hier unten deutlich zu erkennen ist. „Wir sind nicht gegen die neue Brücke“, betont er. Auch der drohende Baustellenlärm sei nicht das Problem. „Aber wir wollen kein weiteres Hochwasser-Risiko hier haben.“ Nur: Eine Brücke ohne Pfeiler, das geht eben nicht. „Allein der Gedanke: Was ist, wenn es während der Bauarbeiten wieder stark regnet – wohin soll das Wasser dann?“
Pütz und seine Nachbarn fordern ein Planfeststellungsverfahren, das für mehr Transparenz sorgen würde und bei dem alle Beteiligten ein Einspruchsrecht hätten. „Starkregen-Ereignisse nehmen zu. Das kann man doch beim Brückenneubau nicht einfach außer Acht lassen.“ Bei Stadt, Straßen NRW und der Bezirksregierung habe er das mehrfach zur Sprache gebracht. „Wir sollen uns keine Sorgen machen, war die Antwort.“ Wenn überhaupt eine kam.
Wittener Sängerin: Bis heute keine Hilfen von der Stadt bekommen
Beim Rundgang durch das Risikogebiet kommen wir an Dagmar Lindes Haus vorbei. Donnernd habe die Flut sie nachts um vier geweckt. Sechs Wochen habe sie gebraucht, bis sie nach dem Hochwasser wieder einigermaßen ruhig schlafen konnte, sagt die Künstlerin. „Ich habe mich über mein Singen selbst therapiert.“ Doch ihre Notenbibliothek sowie Instrumente, die im Keller lagerten, seien komplett hinüber. Hilfen, die sie bei der Stadt beantragt habe, seien bis heute nicht angekommen. Dazu noch die dürftige Auftragslage wegen Corona. „Kollegen haben mir Geld geschickt. Meine Tante unterstützt mich.“
Bodenproben aus ihrem Garten hat die Selbstversorgerin untersuchen lassen. Schadstoffe, „wie sie im Ruhrgebiet halt vorkommen“, seien in Maßen gefunden worden. „Ich sollte kein Wurzelgemüse essen, riet man mir.“ Trotz allem hat Dagmar Linde keine Angst vor der nächsten Hochwasserkatastrophe: „Mein Haus bleibt stehen“, ist sie sicher. Sie sei einfach dankbar, noch immer singen zu dürfen.
Brennerei Sonnenschein: Renovierung nach Flut im Februar beendet
Froh ist auch Geschäftsführer Sebastian Banhold, das der fürs Weihnachtsgeschäft provisorisch genutzte Verkaufsraum in der Brennerei Sonnenschein bald wieder hergerichtet ist. Der Boden ist fertig, aus der Decke hängen noch Kabel. Kurz müssen sie nochmal ins Lager umziehen. Mitte Februar soll alles fertig sein. „Jetzt reicht es auch. Ich bin langsam urlaubsreif“, sagt Banhold. Das Ruhrhochwasser hatte immensen Schaden im Traditionsbetrieb angerichtet.
Nun habe er nach Absprache mit Wittens Starkregen-Risikomanager alles so wieder aufgebaut, dass bei einer neuen Flut der Schaden so gering wie möglich ausfalle. „Trotzdem fragt man sich immer, ob man nun wirklich alles bedacht hat.“ Hätte er doch Spundwände anschaffen sollen, die im Notfall die vielen Fenster sichern könnten? Oder gar ein Schleusentor, das bei Bedarf hochgefahren werden kann? Das sei aber auch eine Kostenfrage.
Unruhig wurde Banhold, als am Sonntagabend (2.1.) eine Unwetterwarnung auf seinem Handy einging. Kurzerhand hat er, ebenso wie Dirk Pütz, die Nina-Warn-App und die Wetter-App abgeschaltet. Beide wissen: Das ist eigentlich nicht richtig. „Aber man kann nicht immer in Alarmbereitschaft sein.“