Oberhausen. .
Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es. Aber das stimmt nicht. Es gibt Wunden, die bis ans Ende der Zeit nicht verheilen. Das Leben geht weiter, heißt es. Aber das kann nicht sein. Denn es gibt Augenblicke, in denen die Welt stillsteht bis ans Ende aller Tage. Für Christian (13) und Horsti (12) war es so, als ihre Väter starben.
Und Leon (8) kann bis heute nicht fassen, dass er nach seiner geliebten Mama nun auch noch den Opa verloren hat. Alle drei besuchen „Sternenzelt“, eine Gruppe für trauernde Kinder.
Die Trauerbegleiterinnen Karin Degen und Susanne Overbeck knüpfen ein Netz für die Seelen der Kinder: Sie fangen auf, halten fest, lassen los. Heute flechten die Jungs Lebensbänder. Ein Knoten steht für traurige Erlebnisse, eine Perle für schöne Momente. „Die Einschulung war ein trauriger Tag“, erzählt Horsti und ergänzt, dass er eigentlich danach einen Knoten an den anderen reihen müsste. „Denn blöd ist es in der Schule bis heute geblieben.“ Ach ja, nur die eine Klassenfahrt, die sei cool gewesen. „Und der Kindergarten, wie war der?“ will Christian wissen. „Oh, ja“, erinnert sich Horsti plötzlich, „der war auch cool“.
Christians Papa starb vor vier Jahren an einem Herzinfarkt. Seitdem kommt er in die Steinbrinkstr. 158. Nicht mehr regelmäßig, aber immer wieder. „Ich fühle mich hier gut“, sagt er. Hier könne er sprechen, traurig sein, sich erinnern. „Ich kann in der Gruppe besser reden als bei Mama.“ Ohne schonen zu müssen. Außerdem seien die Jungs lustig. „Wir lachen viel.“ Die Mutter hat einen neuen Lebenspartner gefunden. Für Christian ist das in Ordnung.
Neue Lebenspartner
Horstis Papa starb im September vor zwei Jahren, auch er an einem Infarkt. „Ich war sehr traurig damals, deshalb kam ich hierher“, erzählt der 12-Jährige. Horstis Mama hat diesmal Sekt mitgebracht, sie will wieder heiraten. „Wie fühlt sich das für dich an?“ will Karin Degen wissen. „Ist schon o.k., der ist nett“, sagt Horsti. Ob er für ihn ein Papa werden könnte? „Niemals! Aber das will er auch gar nicht.“
Nein, heiraten soll seine Mama nicht mehr, wirft Christian ein. Das habe sie ihm versprochen. Auch, dass der Lebensgefährte nie in ihre Wohnung ziehen würde. „Aber wir sind trotzdem zusammengezogen – in eine neue Wohnung, so hat sie sich durchgemogelt.“ Am Anfang sei das schon komisch gewesen.
Leons Mama hatte vor einem Jahr „so heftige Bauchschmerzen“. Dann sei sie gestorben. „Ich verstehe das alles nicht“, sagt Leon und schüttelt den Kopf. „Lass dir das noch einmal von deinem Papa erklären“, rät Susanne Overbeck. Was er zu einer neuen Frau an der Seite seines Papa sagen würde? „Die hat er doch jetzt“, weiß Leon. „Die Uta wohnt in Hamburg.“
Da soll er nun auch hinziehen, wegen der Uta und Papas Arbeit. Das passt ihm nicht. „Papa arbeitet in Hannover, von Hamburg ist das doch viel weiter weg als von Oberhausen“, versucht er eine schlüssige Erklärung für seine Ablehnung zu finden. Horsti sieht ihn mitleidig an. „Ich würde nicht von hier wegziehen wollen, dann verliere ich ja auch noch alle meine Freunde, müsste die Schule wechseln und so, bloß nicht!“ – „Aber ich doch auch nicht“, sagt Leon leise. „Ich verstehe das alles nicht.“
Genau hingucken
Für Kinder habe die Trauer ein anderes Gesicht als für Erwachsene, wissen die Trauerbegleiterinnen. Nicht selten werde ihnen zu wenig Zeit eingeräumt, heiße es etwa in der Schule nach einem halben Jahr schon „Jetzt muss doch mal gut sein“. Doch Trauer kennt nun einmal keine Zeit.
Die alten Rituale sind verloren gegangen. „Heute erwarten oft alle im Umfeld, dass man nach einer Beerdigung sehr schnell wieder funktioniert“, wissen die Trauerbegleiterinnen Karin Degen und Susanne Overbeck.
Früher kamen Familie und Nachbarn am Todestag zu Besuch, brachten Essen mit und umsorgten die Trauernden. „Doch inzwischen sprechen viele Eltern mit ihren Kindern nicht einmal mehr über den Tod“, sagt Karin Degen. Sind Mama oder Papa gestorben, gehen die Kinder oft im Trauergeschehen verloren. „Ihre Bedürfnisse werden leichter übersehen“, so Susanne Overbeck. Es gebe Kinder, die zögen sich extrem zurück, wollten nicht darüber reden, auch nicht nach ein, zwei Monaten. „Das dürfen sie auch, denn diese Verdrängung ist ein Schutzmechanismus“, klärt Karin Degen auf.
Doch Eltern sollten genau hingucken: „Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Essstörungen, Entwicklungsrückschritte – all das könen Hinweise auf nicht verarbeitete Trauer sein“, ergänzt Overbeck. Andere Kinder fielen durch aggressives Verhalten auf. „Das muss man aushalten können, aber man muss auch Grenzen setzen“, sind sich die Fachfrauen einig.
Generell gelte: Kinder trauern anders als Erwachsene. „Während Erwachsene in einem Meer aus Traurigkeit versinken, hüpfen Kinder in die Trauer wie in eine Pfütze hinein und wieder hinaus“, erläutert Karin Degen. „Sternenzelt“ soll ein Ort sein, an dem die Kinder eine solche Krise so durchleben, „dass sie für ihren Lebensweg das Positive im Auge behalten, damit der Verlust nicht übermäßig groß wird“. Das scheint zu klappen. Die Kinder bestätigen: „Das Loch im Herzen wird kleiner.“