Oberhausen. . Rund 400 Meldungen über mögliche Kindesmisshandlungen gingen 2010 beim Oberhausener Jugendamt ein. Erschreckende 350 Meldungen waren berechtigt. 70 Kinder mussten sogar sofort aus den Familien herausgenommen werden.

Rund 400 Mal meldeten sich Oberhausener 2010 beim Jugendamt, weil sie den Verdacht hegten: Da wird ein Kind misshandelt. Fragt man Thomas Notthoff, den stellvertretenden Jugendamtsleiter, wie oft an den Meldungen tatsächlich etwas dran war, nennt er eine erschreckende Zahl: „350 Mal.“ 70 Kinder mussten sogar sofort aus den Familien herausgenommen werden. Wobei das immer als das letzte Mittel gilt.

Wie Notthoff berichtet, waren es im Jahr 2010 Nachbarn oder Erzieherinnen, die sich an das Jugendamt wandten. Nur 14 Kinderärzte machten eine Meldung. „Das wird sich im kommenden Jahr hoffentlich ändern“, wünscht sich Notthoff. Dann nämlich sollen sich Ärzte auch in Verdachtsfällen direkt mit dem Jugendamt in Verbindung setzen können. Der Entwurf des neuen Bundeskinderschutzgesetzes sieht diese Neuregelung vor. Bislang durften Ärzte ihre Schweigepflicht ohne Einverständnis der Eltern nur brechen und sich an die Behörde wenden, wenn Gefahr im Vollzug war.

Angst vor Beschneidung

Notthoff erzählt, warum Leute das Jugendamt alarmieren: „Sie melden sich häufig, wenn sie mitbekommen, dass Säuglinge oder Kleinkinder alleine zu Hause gelassen werden.“ Bei psychischen Problemen oder Drogensucht der Eltern. Oder wenn Wohnungen völlig zugemüllt sind.

Manchmal suchen auch Kinder oder Jugendliche selbst Hilfe bei der Behörde. „Wir kümmern uns gerade um zwei Zehnjährige, die beschnitten werden sollten, Angst davor hatten, das nicht wollten“, sagt Notthoff. Da führten sie Gespräche mit den Eltern. Zwei bis drei Mal pro Jahr kümmerten sie sich auch um junge Frauen, die zwangsverheiratet werden sollten. „Die Frauen bringen wir erst einmal in Sicherheit.“ Dann führten sie Gespräche mit den Eltern. „In der Hälfte der Fälle können wir einen Kompromiss erzielen.“ In den übrigen Fällen brächten sie die jungen Frauen möglichst weit weg unter, „in der Hoffnung, dass ihre Familien sie nicht finden“. Der stellvertretende Bereichsleiter erklärt, es sei von den Frauen sehr mutig, sich zu outen.

Mittelstand boomt

Eine Veränderung: „Bei uns boomt seit ein paar Jahren der Mittelstand“, sagt Notthoff ironisch. In manchen Familien von Ärzten oder Lehrern etwa gebe es Probleme. Notthoff: „Die Eltern in den betroffenen Familien kommen mit ihren Kindern klar, so lange diese eine heile Welt mitspielen, aber, wenn die Kinder dann in die Pubertät kommen, knallt es.“ Da verzeichneten sie im Ansatz kriminelle Karrieren von Kindern, die so auf sich aufmerksam machen wollten. Ansonsten gebe es Mobbing in den Familien oder es würden völlig absurde Verbote für die Kinder aufgestellt.

Was passiert, wenn eine Meldung beim Jugendamt eingeht? Notthoff: „Wir müssen entscheiden, ob wir sofort, morgen oder nächste Woche einen Hausbesuch machen.“ In einem Drittel der Fälle suchten die Mitarbeiter die Familien sofort auf.

Beim Jugendamt arbeiten 55 Fachkräfte, darunter mittlerweile viele mit Migrationshintergrund. „Sie haben den besseren Zugang zu ihren Landsleuten“, sagt Notthoff. Er macht auch deutlich: „Wenn die Mitarbeiter einen Fehler machen, haften sie persönlich. Wenn ein Kind zu Schaden kommt, müssen sie sich vor Gericht verantworten.“ Wie oft Fehlentscheiden getroffen würden: „In einem von 1000 Fällen“, schätzt Notthoff.

Kritik vom Riskid-Initiator

Während der stellvertretende Jugendamtsleiter Thomas Notthoff die 2012 geplante Änderung des Bundeskinderschutzgesetzes begrüßt und hofft, dass sich künftig mehr Kinderärzte an das Jugendamt wenden, geht sie Dr. Ralf Kownatzki nicht weit genug, sieht er sogar Gefahren in dem neuen Entwurf. Der Duisburger Kinderarzt und Initiator des ärztlichen Kinderschutzprojektes „Riskid“ hatte immer wieder gefordert, dass es auch Ärzten erlaubt werden müsse, sich untereinander austauschen zu dürfen, wenn sie den Verdacht hegen, ein Kind sei misshandelt worden. Die Möglichkeit eines solchen Austauschs sehe auch das neue Gesetz nicht vor.

Kownatzki schreibt: „Nach aktueller Rechtslage müssen sich Ärzte bei den Erziehungsberechtigten und möglichen Tätern erst das Einverständnis holen, um sich gegenseitig über eine noch unklare Kindesmisshandlung zu informieren.“ Eltern aber, die ihre Kinder wirklich misshandeln, betreiben nicht selten das sogenannte Ärzte-Hopping. Sie wechseln ständig den Kinderarzt, damit die häufigen Verletzungen der Kinder nicht auffallen.

Im Verdachtsfall

Notthoff erklärt dazu, dass Eltern sogar immer wieder von einer Stadt in die andere zögen, um zu vertuschen, dass sie ihre Kinder misshandeln. Auch Notthoff fände es sinnvoll, wenn Ärzte sich untereinander austauschen dürften. Im Gegensatz zu Kownatzki sieht er aber kein Problem darin, dass Mediziner sich direkt ans Jugendamt wenden. „Zum Schutz der Eltern können diese in Gesprächen ja zunächst anonymisiert werden“, schlägt er vor.

Nach dem neuen Gesetzentwurf sollen sich Ärzte schon bei einem Verdacht auf Kindesmisshandlung ans Jugendamt wenden und dort klären lassen, ob etwa die blauen Flecken von einem Sturz oder Schlägen herrühren. Das hält Kownatzki wiederum für äußerst kritisch: „Damit verlässt die Information den geschützten Raum der Arzt-Patienten-Beziehung und gelangt zu einer Behörde.“ Der Mediziner befürchtet: „Dies kann dazu führen, dass Eltern notwendige Arztbesuche künftig vermeiden, weil sie befürchten müssen, dass schon eine unklare Verletzung zu einer Meldung an das Jugendamt führen kann.“ Kownatzki schätzt, man werde nun damit weiter leben müssen, dass in Deutschland jeden zweiten Tag ein Kind getötet wird.