Berlin/Bochum. Ein Jahr lang war die Ex-Ministerin Christine Bergmann mit der Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch beauftragt. In ihrem Abschlussbericht fordert sie, der Bund soll die Kosten von Therapien tragen und eine Clearingstelle einrichten.

. Es klingelt noch immer, 40 Mal am Tag. Am Telefon sind Opfer von sexueller Gewalt, von Missbrauch. Hilfe suchen sie, ein Therapieangebot, sind froh darüber, dass sie ein Ohr finden, ihr Leid erzählen können, sich selbst einen Ruck gaben. „Nun bin ich 63 Jahre alt und habe es nie gewagt, mit jemandem darüber zu sprechen“, sagen sie. Und: „Ich habe nie geglaubt, dass mir jemals zugehört wird.“ Zwei Sätze aus dem 300 Seiten langen Abschlussbericht von Christine Bergmann.

Ein Jahr lang war die Ex-Ministerin mit der Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch beauftragt. Nun hat sie ihren Auftrag für die Regierung erledigt. Im Oktober scheidet sie aus und geht mit Blick auf ihre Beratungsstelle in Berlin davon aus, „dass die Telefone nicht abgestellt werden, der Bedarf ist da.“ Wie geht es weiter? Wie verbindlich sind ihre Vorschläge?

Sie forderte etwa finanzielle Hilfen für Opfer. Was daraus wird, entscheidet der „Runde Tisch“, an dem drei Kabinettsmitglieder sitzen, und mittelbar der Finanzminister. Der Bund soll nach Bergmanns Vorstellung die Therapiekosten der Opfer tragen, die in Familien missbraucht wurden. Man geht von je 50 Stunden und von 5000 Euro aus. Die Zahl der Fälle wird auf 10 000 geschätzt, da kommt man schnell auf einen Finanzfonds von 50 Millionen.

Es geht, wohlgemerkt, um verjährte Fälle. Eine Clearingstelle soll die jeweilige Höhe der Hilfe festlegen. Für die Fälle im familiären Umfeld soll der Bund aufkommen. Wurden Kinder in Vereinen, Schulen oder kirchlichen Institutionen missbraucht, sollen sie für Therapiekosten aufkommen. Die katholische Kirche will Opfern sexuellen Missbrauchs bis zu 5000 Euro Entschädigung zahlen und bei Bedarf eine Psychotherapie. 11.000 Anrufe und 2000 Briefe hat die Beauftragte gezählt. Zu 60 Prozent meldeten sich Frauen.

Strukturen „totalitärer Institutionen“

In Bochum wurde am Dienstag ein weiterer Bericht vorgelegt, in dem es um furchtbare Erlebnisse von Kindern und Jugendlichen ging. Forscher der Ruhr-Universität legten erstmals eine umfassende wissenschaftliche Studie zur konfessionellen Heimerziehung der Nachkriegsjahre vor. Sie haben Strukturen aufgedeckt, die denen „totalitärer Institutionen“ ähnelten. Kinder waren völlig auf sich selbst gestellt und der Willkür des Heimpersonals ausgesetzt.

Der katholische Kirchenhistoriker Wilhelm Damberg und der evangelische Sozialethiker Traugott Jähnichen, unter deren Federführung die Studie für die Jahre 1949-1972 erstellt wurde, gehen davon aus, dass damals 800.000 Kinder und Jugendliche in Heimen untergebracht waren, etwa 600.000 davon in konfessionellen Einrichtungen. In Mikrostudien wurden die Zustände in NRW, Bayern und Niedersachsen untersucht. Der „Erziehungsstil“ und grundlegende organisatorische Probleme - zu wenig und pädagogisch schlecht qualifiziertes Personal - unterschieden sich dabei in den Einrichtungen kaum. Wie die Forscher überhaupt feststellten, dass konfessionelle, staatliche oder auch Heime anderer Träger zu jener Zeit vom gleichen pädagogischen Ungeist geprägt waren.

120 Millionen Euro für Entschädigungen

Das Leben „nicht weniger“ Jugendlicher war somit geprägt von eingeschränkten Rechten, Demütigungen und drakonischen Strafen. Es sei zu Essensentzug, Isolierung, körperlichen Züchtigungen und mitunter auch zu sexuellem Missbrauch gekommen. „Die Leitungen der jeweiligen Einrichtungen wie auch kirchliche Aufsichtsorgane haben die oft problematischen Zustände gekannt oder hätten sie zumindest kennen können“, so die Forscher. Es sei aber auch festzuhalten, dass Fällen von „eklatantem Versagen und großer Schuld“ vereinzelt ein besonderes Engagement von Heimmitarbeitern entgegengestanden habe.

Aus dem vom Berliner Runden Tisch „Heimerziehung“ beschlossenen Fonds sollen 120 Millionen Euro an Entschädigungen bereit stehen. Während die Kirchen ihren Anteil zugesagt haben, hat der Bund die Zustimmung an das Ja der Länder geknüpft. Das aber steht noch aus.