Oberhausen. Vor vollem Haus las der Romancier an seinem 70. Geburtstag „Die Nacht unterm Schnee“ – und kehrte literarisch noch einmal zurück zum Tackenberg.
Das Große Haus des Theaters Oberhausen war bestens gefüllt, die Bar mit frischem Blumenschmuck ausstaffiert – und selbst das Geburtstagsständchen für Ralf Rothmann war viel mehr als ein hergebrachtes „Happy Birthday“ zum 70.. Schließlich sang Christian Donovan, Musiker des Trios „Sackville Street“, vor der gespannt erwarteten Lesung mit kraftvoll-getragener Stimme die jahrhundertealte irische Weise „She Moved through the Fair“ (in der Pop-Version bekannt als „Belfast Child“).
Hier tröstet die junge Braut ihren Liebsten: „Meine Mutter hat nichts gegen dich und mein Vater sieht nicht auf dich herab.“ Doch man ahnt: Wahr ist eher das Gegenteil. Die unterschwellige bis elektrisch knisternde Spannung zwischen Gesagtem und Ungesagtem, Trost und Lüge variiert auch Ralf Rothmanns Roman „Die Nacht unterm Schnee“ in einer Fülle von brillant ausgestalteten Szenen und Motiven. Till Beckmann, der den Romancier seit der Arbeit am Drehbuch für Adolf Winkelmanns „Junges Licht“ kennt, sprach ohne Übertreibung von „diesem Abend, der so aufgeladen ist mit Bedeutung“.
Für die Geschwister Beckmann, die als „Spielkinder“ seit bald 14 Jahren Rothmanns Texte vom Tackenberg auf die Bühne bringen, sind die inzwischen über 20 Gedichtbände, Erzählungen und Romane „eine Schule für Humanität“. Schöne Beispiele dieser pointierten Epigramme sollten folgen – und schließlich die Bitte „um einen dieser besonderen Oberhausener Appläuse“, so der jungenhafte 38-Jährige aus Recklinghausen-Süd.
Der berühmte Autor: „Immer noch der alte Kindskopf“
Der so willkommen Geheißene wirkte wahrlich nicht 32 Jahre älter. Man hatte ja schon den Verdacht, sein Suhrkamp-Verlag würde nur zehn Jahre alte Fotos von Ralf Rothmann verbreiten – aber weit gefehlt. Zu seinem Alter sagte der jetzt 70-Jährige später nur, er sei „immer noch der alte Kindskopf“. Zur Lesebrille wechselte er mit einer raschen, routinierten Bewegung – um, Tisch an Tisch mit Till Beckmann, sogleich für 80 Minuten in „Die Nacht unterm Schnee“ einzusteigen.
„Ein Roman verkörpert stets einen gewissen Mutwillen“, schreibt Rothmann im letzten Kapitel dieses dritten Bandes, der von den Kriegsverheerungen seiner Eltern erzählt: „Er zwingt das Geschehen in eine Form, die es im Leben selten gibt und die uns in unserer Angst vor dem Traurigen, Schrecklichen oder Chaotischen besänftigen soll.“
Der Romancier am Lesetisch übernahm den Part von Luisa Norff, die als jüngere Freundin von ihrer ersten Begegnung mit Elisabeth erzählt: Die damals 17-jährige Büffetkraft im Kieler Marinekasino kennt der große Kreis der Rothmann-Fans aus etlichen früheren Geschichten als so lebenshungrige wie todschicke – und immer wieder ihren ältesten Sohn prügelnde – Mutter des Erzählers im penibel geputzten Käfig ihrer 50-Quadratmeter-Wohnung am Tackenberg. „Sie stürzte sich mit allen Sinnen in das nächste Desaster“, heißt es auch im jüngsten, von den Feuilletons einstimmig gefeierten Roman. „Sie täuschte sich mit Frechheit über ihre Angst hinweg.“
Von Sprachlosigkeit und dem Verstummen in Todesangst erzählen die ans Ende jedes Kapitels gestellten Rückblenden auf Elisabeths Flucht aus Danzig durch das verschneite Pommern. Diese fast filmischen Szenen las Till Beckmann, der Schauspieler, Kamera- und Theatermann: Auch die ersten Sätze jener Vergewaltigungsszene, die in einer Zeit-Rezension als „übersachlich und kalt“ bewertet wurde. Dabei war ihr Ton eigentümlich distanziert, gebrochen in einem Spiegelbild: „Erst als sie in dem ovalen Spiegel eines Kleiderschranks einen Soldaten sah, der ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, an den schwarzen Haaren zum Bett zog, begann sie zu wimmern.“
In diesem Wechsel vermochten es zwei Stimmen, vor dem Grau des Eisernen Vorhangs durch den gesamten 300-Seiten-Roman zu führen – und doch vieles nicht zu verraten. Denn vom süffig erzählten Tanzabend in der Kneipe „Zum Schälking“ hörte das Publikum von Rothmann nur die ersten Momente – wie den entzückten Jauchzer einer Freundin aus der Siedlung: „Liesel, ich piss mich ein!“ Hier hatte der vergnügte Till Beckmann echte Mühe, die Contenance zu wahren.
Der Roman-Schluss stellt die Glaubens-Frage
Auch die Rettung der vergewaltigten und schwer verletzten 16-Jährigen durch Dimitrij, einen älteren Rotarmisten mit Rotkreuz-Binde – diese Szene im gut getarnten Bunker meint der Titel „Die Nacht unterm Schnee“ – ließ das souverän lesende Duo aus. Doch beide lasen die letzte Buchseite mit jener von religiösen Obertönen getragenen Epiphanie, in der Elisabeth ferne Kirchenglocken hört.
Ralf Rothmann verneigte sich zu anhaltendem Applaus, legte die Hand aufs Herz. Doch für die Fragen aus dem Alphabet-Kästchen (von B wie Bücherei bis S wie Schläge) blieben nur wenige Minuten. Dabei hätte sich gerade die Glaubens-Frage aufgedrängt, hatte doch seine Erzählerin Luisa Norff schon am Schluss von „Der Gott jenes Sommers“, dem Roman von 2018, Trost in einem Kloster gesucht. So ist das mit Rothmanns Erzählkunst: Hat man als Leser die neueste Erzählung beendet, möchte man – aus neuem Blickwinkel – gleich zum älteren Buch zurückkehren.